The Hirsch Effekt, 10.10.20, Kaiserslautern, Kammgarn

Unheimlich gutes Horrorfilm-Kino

Wie so viele andere Bands, hatten auch The Hirsch Effekt ihre für März geplante Tour absagen müssen. Als dann auch noch die für Oktober und November geplanten Ersatztermine der Covid-19-Pandemie zum Opfer fielen, war das Entsetzen, sowohl bei Fans als auch bei den Hirschen selbst, sehr groß. Von den ursprünglich geplanten 14 Auftritten in Deutschland, Österreich und Frankreich konnte nur jener auf dem Bremer Überseefestival wahrgenommen werden (da es sich hierbei um eine Open Air Veranstaltung handelte). Umso erfreulicher für die enttäuschten Fans gab die Band, zeitgleich mit der Tourabsage, eine kurzfristig arrangierte Mini-Tournee unter Corona-Hygienebedingungen bekannt. Was auf vier Termine veranschlagt war, weitete sich mit der Zeit auf eine handfeste Tour aus, die in sieben Städten haltmachen sollte. Mit dem Marburger KFZ und dem Münchner Backstage standen sogar zwei Locations auf dem Programm, welche schon für die ursprüngliche Tour gebucht worden waren.

Ich selbst hatte vorgehabt, mir “THE” im Dortmunder JunkYard unter freiem Himmel zu Gemüte zu führen. Doch aus meinen Plänen sollte nichts werden. Nur zehn Stunden vor dem Auftritt meldete sich Sänger und Gittarist Nils Wittrock per Videobotschaft an die Fans der Band und sagte das für den Abend anstehende Konzert aus gesundheitlichen Gründen ab. Kollege Ilja Lappin (Bass und Gesang) lag mit Fieber im Bett. “Unter normalen Umständen, hätte er sich heute heldenhaft auf die Bühne geschleppt, aber grad ist Verzicht und Rücksicht die Tugend der Stunde.”

Das ausgefallene Konzert wurde kurzerhand um ein Woche verschoben; zu meinem Leidwesen, denn ich hatte schon andere Verpflichtungen für jenen Samstagabend. Stattdessen machte ich mich ein paar Wochen später auf den Weg in die schöne Pfalz, wo die Hirsche in Kaiserslautern bei einem Wohnzimmerkonzert auftreten sollten. Es war eine gute Wahl, denn ich wurde für meine Anreise-Strapazen mit dem Kennenlernen eines wunderschönen Industriedenkmals belohnt: das Kammgarn, der heutige Veranstaltungsort, war bis in die 1980er Jahre eine Spinnerei und noch heute zählt sein Schornstein zu den Wahrzeichen der Stadt an der Lauter. Zwar wurden nicht die Türen der großen Halle unterhalb des hohen Schornsteins geöffnet, aber auch der kleine Saal braucht sich, was seine Flair betrifft, nicht zu verstecken. Mit einem Fassungsvermögen von 150 Zuschauern (bei Bestuhlung) ist dieser zwar immer noch zu groß für ein wirkliches Wohnzimmerkonzert, doch machte das Venue an dem Abend schon einiges her. Die Veranstalter hatten nämlich die vordersten Reihen mit Sesseln, Couchen, Beistelltischen und Tischleuchten versehen, so dass das Ambiente an jenes eines gemütlichen Kinematographentheaters mit Vintage-Atmosphäre erinnert. Die Plätze auf den Polstermöbeln wurden übrigens nach dem Zufallsprinzip vergeben und nicht über einen erhöhten Ticketpreis an die Zuschauer gebracht. Chapeau!

The Hirsch Effekt (10.10.20, Kaiserslautern, Kammgarn; Foto: FlohFish)

Für ein Konzert von The Hirsch Effekt sind diese Rahmenbedingungen natürlich eher ungewöhnlich. Zwar sollen die Hannoveraner ihre eigene Musik in der Vergangenheit schon als “Krawallkunst” bezeichnet haben, doch hatten die Live-Auftritte des Trios bisher immer viel mehr mit Krawall als mit Kunst zu tun. Natürlich haben die gesellschaftskritischen deutschen Texte der Hirsche (welche ihnen schon Vergleiche mit der Hamburger Indie-Pop Band Blumfeld eingebracht haben) auch im Live-Kontext einen hohen Stellenwert, doch ist es für den Zuhörer schon aufgrund des Gesangstils der Musiker eher schwierig, sich auf diese zu fokussieren. Krawall dagegen war bei bisherigen Konzerten immer allgegenwärtig, so dass sich der Bereich vor der Bühne früher nicht selten in einen riesigen Moshpit verwandelte. Aber Vergangenheit ist Vergangenheit und 2020 ist nicht 2019, sodass sich sowohl Band als auch Publikum mit den veränderten Umständen arrangieren müssen.

Zumindest was das Auftreten der drei Musiker angeht, scheinen diese Einflüsse keine sichtbaren Konsequenzen zu haben. Für sich alleine betrachtet, unterscheidet sich das heutige Bühnengeschehen praktisch gar nicht von jenem vergangener Konzerte der Band, welchen ich beiwohnen durfte. Nils Wittrock, Ilja Lappin und Schlagzeuger Moritz Schmidt ziehen auf der Bühne ihr Ding ab, als ob es Covid-19 niemals gegeben hätte. Voller Kraft, betankt mit guter Laune und spieltechnisch auf höchstem Niveau, zelebriert das Trio seinen teils mathematisch kalkulierten, teils gewollt chaotischen Crossover aus Brachialität und progressiven Sound-Landschaften. Trotz aller Effekte, welcher der Musik ihre nötige Tiefe verleihen, bestechen The Hirsch Effekt vor allem durch ihren Groove und ihre brodelnde Energie. Und da es nicht reicht, dieser auf ihren Instrumenten freie Bahn zu lassen, fegen Nils Wittrock und Ilja Lappin, fast Derwischen gleich, durch Licht und Schatten der grellen Stroboskopleuchten, während sich Kollege Moritz Schmidt hinter seinem Drumset die Seele aus dem Leibe trommelt.

Auf das Publikum des heutigen Abends haben die Corona-Bedingungen allerdings eine ganz andere Wirkung. Würden die Zuhörer nicht zwischen den einzelnen Liedern immer wieder den wohl verdienten Beifall klatschen, könnte man wohl annehmen, das man sich gerade wirklich in einem Kino befindet. Niemand tanzt, niemand feiert, niemand singt mit. Stattdessen sitzen alle wie wie festgewachsen auf ihren Sesseln, Stühlen und Hockern und folgen dem Bühnengeschehen mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen und Ohren. Man scheint einem guten Horrorfilm zu folgen, denn die Hirsche berühren, verstören und begeistern zugleich.

Ganze 15 Lieder packen die Niedersachsen heute Abend in ihr Haupt-Set und bedienen dabei ihre letzten drei Werke “Eskapist” (2020), “Kollaps” (2017) und “Holon : Agnosie” (2015) zu fast gleichen Teilen (wobei ein leichter Schwerpunkt auf dem vorletzen Album liegt). Neue Lieder wie ‘NOJA’ und ‘BILEN’ fügen sich nahtlos neben älteren Bandperlen wie ‘BERCEUSE’, ‘INUKSHUK’ oder ‘Jayus’ in die Setlist ein.

Am Ende des regulären Sets der Artcore-Band stehen dann zwei Longtracks, die unterschiedlicher nicht sein könnten, denn während sich die Gruppe bei ‘KOLLAPS’ von ihrer etwas ruhigeren Seite zeigt und den Art-Aspekt in den Mittelpunkt rückt, ist das abschließende ‘Lysios’ brutalsten Core-Gefilden zuzurechnen.

Anders als im Kino gibt es nach dem Hauptfilm natürlich noch eine Zugabe. Dabei greifen The Hirsch Effekt endlich auch einmal in die Mottenkiste und packen mit dem kompakten wie eingängigen ‘Hiberno’ den Titelsong des gleichnamigen 2010er Debütalbums aus, bevor sie den Abend mit dem fulminanten über zehnminütigen ‘Mara’ vom Nachfolgewerk “Holon : Agnosie” ausklingen lassen. Es ist wie ein Filmabspann, nach dem man nicht nach Hause gehen möchte.


Text und Live-Fotos: Floh Fish

Setlists:
The Hirsch Effekt

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