Hellseatic Postponed Open Air 2020, 05.09.20, Bremen, Altes Zollamt
How Do We Want To Live?
Eine Frage, mit der Long Distance Calling nicht nur ihr neuestes Album betitelt haben, sondern, die sich uns in Zeiten von Corona und Covid-19 fast täglich stellt. Welche Aspekte unseres liebgewonnenen Lebens sind wir bereit aufzugeben, um uns selbst und unsere Mitbürger vor der Pandemie und ihren Folgen zu schützen?
Die Live-Musik-Szene war eine der ersten Branchen gewesen, die in diesem Frühjahr auf null runtergefahren werden musste. Hallen- und Clubkonzerte finden bis zum heutigen Zeitpunkt praktisch nicht statt und auch bei den Open Airs hat sich die Situation nur leicht und das auch erst seit kurzem verbessert. Denn nur wenige Veranstalter und Locations sind dazu in der Lage, Hygienekonzepte so umzusetzen, dass Konzerte auch wirtschaftlich rentabel sind. Zudem finden die Veranstaltungen fast ausschließlich mit deutschen Bands statt, da sich zurzeit so gut wie keine internationalen Gruppen in der Bundesrepublik auf Tour befinden (Konkret aufgrund der Quarantäne-Bestimmungen bezgl. sogenannter Risikogebiete. Die haben z.B. ganz aktuell der 2020er Ausgabe des traditionsreichen Freaksho Artrock Festival in Würzburg das Lebenslicht ausgeblasen, d. Schlussred.)
Auch das Hellseatic Open Air hatte unter den Corona-Einschränkungen zu leiden, sodass die ursprünglich auf zwei Tage angelegte Premiereveranstaltung des Festivals auf 2021 hatte verschoben werden müssen. Doch da die Veranstalter das Festival für 2020 nicht vollends hatten aufgeben wollen, wurde umgeplant und abgespeckt: am Ende blieb ein einziger Abend mit lediglich drei Bands, die alle nicht zum ursprünglichen Line-up gehört hatten: HeadGear, Rising Insane und Long Distance Calling. Das Helsseatic Postponed war geboren.
Ich selbst habe seit Ende Februar 2020 keine Band mehr live spielen gesehen, sodass ich für das Hellseatic Postponed Open Air 2020 extra von Köln nach Bremen reise. Ich bin gespannt, wie sich der Abend gestalten wird, da ich mir nur schwer vorstellen kann, wie die Corona-Hygienevorschriften eingehalten werden sollen, geschweige denn, wie die geltenden Abstandsregelungen auch nur einen Funken Stimmung aufkommen lassen sollen.
Was ich auf dem Geländer des Alten Zollamtes dann vorfinde, überrascht mich durchaus positiv. Mit Hilfe von Paletten haben die Veranstalter kleine Halbrunde um Stehtische herum arangiert, welche nicht nur als Abgrenzung zu anderen Tischen, sondern gleichzeitig als Sitzgelegenheiten dienen. Diesen Sitzgruppen werden jeweils acht Festivalbesucher zugewiesen, welche sich im markierten Bereich um ihren Tisch herum frei ohne Maske bewegen dürfen. Außerhalb dieser Homezones gelten Maskenpflicht und Einbahnstraßenregelung, was im Laufe des Abends bei Thekenbesuch und Toilettengang viel besser funktioniert, als man hätte annehmen können. Fraglich bleibt zu diesem Zeitpunkt lediglich, inwiefern sich unter diesen Rahmenbedingungen Partylaune ausbreiten kann.
Dass dies möglich ist, lässt sich bereits erahnen, als mit HeadGear die erste Band des Abends, die Bühne betritt. Schon als die ersten Riffs ertönen, wird klar, wie sehr das Publikum unter dem Mangel an Live-Konzerten gelitten hat, denn die Bremer Lokalmatadoren werden mit frenetischem Beifall empfangen.
Schnell breitet sich ein heimeliges Gefühl aus, welches das Open Air-Gelände für den Rest des Abends auch nicht mehr verlassen wird. Auch HeadGear sind sichtlich erfreut, nach so langer Zeit endlich wieder auf der Bühne zu stehen und live spielen zu dürfen. Deutlich wird dies an der Spielfreude, mit welcher der Vierer auf der Bühne agiert. Es ist der erste Auftritt der Band seit Dezember 2019 und laut Sänger Thomas ‘Rieke’ Rieckenberg fühlt es sich an “…wie das Erste Mal. Es wird scheiße, aber man vergisst es nicht und es tut weh!” Ganz so schlimm wird es dann aber doch nicht, ganz im Gegenteil. HeadGears Modern Metal, der sich musikalisch irgendwo zwischen Linkin Park und Metalcore bewegt, lässt nur wenige kalt. Zwar ist der Sound der Band noch etwas vom Winde verweht, doch das ist heute Abend ziemlich egal. Hauptsache es gibt endlich wieder Musik!
Zum Ende ihres Auftrittes präsentieren HeadGear mit ‘Suffocate’ einen brandneuen Song. Passend zu ihrem Bandnamen legen die Musiker Gesichtsmasken an. Wie gut, dass das nichts mit Corona zu tun hat!
Die zweite Band des Abends kommt auch aus dem hohen Norden, ist allerdings schon etwas bekannter als die Newcomer von HeadGear. Dies ist vor allem “Porcelain” zu veradanken, dem Ende 2019 bei Long Branch Records erschienenen zweiten Album von Rising Insane. Während viele ihrer Labelkollegen zumindest mit einem Bein auf progressivem Boden stehen, sind Rising Insane fest im Terrain von Post-Hardcore und Metalcore verwurzelt.
Auch für Rising Insane blieb die Corona-Pandemie nicht ganz ohne Folgen, so dass die geplante Headliner-Tour zur Bewerbung ihres jüngsten Albums auf März/April 2021 hatte verschoben werden müssen. Der heutige Auftritt bietet somit die einzige Chance, das hanseatische Quintettin diesem Jahr live zu erleben. Dementsprechend geben die vier Musikerheute Abend alles was sie können, so dass sie schaffen, den Frust der letzten Monate in pure Energie zu verwandeln, welche schnell auf die ersten Reihen des Publikums überschwappt.
Um dieser Energie den nötigen Raum zu verschaffen, benötigen die Zuschauer ein Überdruckventil. Moshpits und Stagediving sind aufgrund der aktuellen Rahmenbedingungen natürlich ausgeschlossen, doch zumindest die Circle Pits scheinen heute Abend gut zu funktionieren: zwar nicht in gewohnter Form und Größe, aber dafür mit einer Priese Ironie und leicht an eine Polonaise erinnernd.
Während Rhythmusfraktion und Gitarre den Zuhörern ordentlich auf die Schauze geben, wechselt Sänger Aaron Steineker während der einzelnen Lieder immer wieder Genre-typisch zwischen emotionalem Klargesang und brachialem Geschrei. Genau dieser Kontrast ist es, welcher der Musik von Rising Insane sowohl Tiefgang als auch seine volle Durchschlagskraft verleiht. Es ist ein bemerkensweter Auftritt, und ein starker Kontrast zu dem, was noch auf dem Programm steht.
Als nicht allzuviel später mit ‘Curiosity (Part 1)’ das gesprochene Intro zu Long Distance Callings aktuellen Album “How Do We Want To Live?” erklingt, ist die Sonne bereits untergegangen und die Dunkelheit hat sich über Bremen gelegt. Die Bühne ist in dunkelblaues Licht getaucht und in weißen Nebel gehüllt. Während kurz vor dem Übergang zu ‘Curiosity (Part 2)’ endlich die Musiker die Bühne betreten, ist von ihnen nicht vielmehr als dunkle Schemen zu erkennen, die sich vor dem Gegenlicht abzeichnen. Der Sound ist nahezu perfekt abgemischt, sodass er druckvoll und breitwandig herüberkommt. Es sind die idealen Rahmenbedingungen für ein audiovisuelles Gesamterlebnis.
Die vermehrten elektronischen Spielereien, welche “How Do We Want To Live?” kennzeichnen, fügen sich fast unmerklich in den Gesamtsound der Band ein, so dass alte Hits wie ‘Black Paper Planes’ und ‘Arecibo’ und neue Songs wie ‘Voices’ und ‘Ashes’ in trauter Eintracht harmonieren. Man merkt Bassist Jan Hoffmann (der mich heute Abend optisch an Rage Against The Machines Tom Morello erinnert), den Gitarristen Florian Füntmann und David Jordan sowie Schalgzeuger Janosch Rathmer ihre große Bühnenerfahrung von Anfang an, denn so routiniert wie die Münsteraner Prog & Post Rocker heute Abend agieren, spielen sie in einer gnz anderen Liga als die beiden Opening Acts.
Die Kombination aus postrockigen Gitarrensounds, groovigen Rhythmen und eingängigen Melodien hat etwas cineastisches an sich. Anstatt, wie noch kurz zuvor, zu tanzen, verharrt das Publikum recht still auf seinen Plätzen und folgt dem Bühnengeschehen fast andächtig mit weit geöffneten Augen und Ohren.
Es ist ganz großes Kino, was Long Distance Calling ihrem Publikum heute Abend bieten. Leider fällt die Zugabe mit ‘Metulsky Curse Revisited’ viel zu kurz aus, doch sind die Lärmschutzbedingungen nach 22:00 Uhr wohl der Preis, den man zahlen muss, wen man zu zeiten von Corona überhaupt Live-Musik erleben will.
Ich für meinen Teil bin restlos begeistert und bereue es zu keinem Augenblick, die lange Reise nach Bremen angetreten zu sein.
How Do We Want To Live?
Am Ende kann es auf diese Frage nur eine Antwort geben:
Definitiv nicht ohne Live-Musik!
Text und Live-Fotos: Floh Fish
Setlists:
HeadGear
Rising Insane
Long Distance Calling
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Rezension: “How Do We Want To Live?”
Rezension: “Stummfilm (Live From Hamburg)”
Rezension: “Boundless”
Rezension: “Trips”
Konzertbericht: 18.01.18, Essen, Turock
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Weitere Surftipps:
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Musikszene Bremen e.V. (Veranstalter)
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