(77:12, CD, digital, Eigenproduktion/JustForKicks, 2020)
TAP – so kürzen sie sich selbst auf dem Front-Cover ab. Und das steht für The Ancestry Program. Ein Kürzel also, das sich leicht merken lässt. Und mit dem sich der Prog-Fan unbedingt beschäftigen sollte, denn hier kommt einem ein ausgesprochen vitaler Sound in Verbindung mit beeindruckend abwechslungsreichen Kompositionen entgegen. Aber der Reihe nach.
Vier Musiker aus dem Raum München hatten sich 2015 zusammengetan, um gemeinsam abseits ihrer eigentlichen Bands ihre musikalischen Ideen umzusetzen. Das Quartett rekrutiert sich aus Musikern, die auch in folgenden Bands aktiv sind: Schizofrantic, Acht, Jacuzzi, Freaky Fuckin‘ Weirdoz, Boysvoice, Skybus, Othello, Phantone, Poison Ivy, Number Nine, Century’s Crime. Ob dies schon eindeutige Hinweise auf die musikalische Ausrichtung auf diesem Album gibt, entzieht sich des Schreiberlings Kenntnis, da ihm lediglich zwei der genannten Acts bekannt sind. Das spricht also eher dafür, dass es nicht unbedingt ins eigene Beuteschema passt. Aber mit Neugier geht es erst einmal unvoreingenommen an den ersten Hördurchlauf – mal sehen, was die folgenden Musiker zu bieten haben:
Andy Lind – lead drums / lead cymbals / loop programming / keyboard bass / keyboard guitars / keyboards / guttural vocals
Mani Gruber – lead electric and acoustic guitars / keyboard bass / keyboards / background & lead vocals
Ben Knabe – lead vocals / background vocals
Thomas Burlefinger – lead keyboards / rhythm guitars / keyboard bass / bass guitar / background vocals
Sowie als Gastmusiker:
Heiko Jung – additional bass
Martin Kursawe – additional guitars
Axel Kühn – additional woodwinds: tenor and soprano saxophones / flute / bass clarinet.
Nach sphärischem Intro geht es gleich recht ordentlich zur Sache, eine Mischung aus Heavy und komplexem Rock, versehen mit gutem Gesang – das ist der Eindruck nach den ersten Songs. Allerdings kommen auch Growls dazu, was einige Prog-Fans (den Autor eingeschlossen) eher abschrecken dürfte. Auf halber Strecke vermisst man dann möglicherweise in großen Teilen das, was im Beipackzettel als Anhaltspunkt gegeben wird, nämlich eine gewisse Nähe zu Größen wie King Crimson, Gentle Giant, Pink Floyd, Porcupine Tree usw. Am ehesten kommen noch Letztgenannte in den Sinn, die anderen Quellen sucht man zunächst vergebens, doch dann kommt plötzlich ein Hammer-Song, der so was von GG beeinflusst ist, doch dazu später mehr.
Der Gesamteindruck nach dem ersten Durchlauf war positiv, zwar war nicht viel hängengeblieben, aber die Kompetenz der Musiker ist direkt erkennbar. Die Spritzigkeit überzeugt, doch gelegentliche Growls setzen sich eben auch in der Erinnerung fest. Den größten Fehler, den man nun machen kann, ist es, das Album aus eben jenem Grund beiseite zu legen. Denn dann verpasst man so einiges. Und das ist nicht nur rein numerisch gemeint angesichts der ausladenden Gesamtspielzeit, die anfangs noch den Eindruck erweckt, dass das Album insgesamt etwas zu lang geraten sein könnte.
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Mit Ausnahme von Intro und Outro sind alle Songs der Münchner mittellang geraten, d.h. neun Songs mit Spielzeiten zwischen sechs und elf Minuten. Das Album startet mit Soundcollagen, auf dieses Instrumentalintro folgt dann mit ‚Silver Laughter‘ (8:39) gleich ein erstes Ausrufezeichen. Es beginnt mit einem Sound, der stark an typischen Neo Prog britischer Prägung erinnert, dem dann fetziges Gitarrenspiel und wuseliges Drumming hinzugefügt wird. Und relativ schnell stellt sich heraus, dass TAP wertvolle Pluspunkte hinsichtlich des Gesangs sammeln können, denn Knabe überzeugt mit seiner wandlungsfähigen Stimme. Das Ganze klingt recht wuchtig und erinnert stellenweise ein bisschen an die schwedischen Carptree. Neo Prog und Symphonic Prog Fans werden hier gleichermaßen hervorragend bedient. ‚Pun Intended‘ ist nur unwesentlich kürzer, hier wird der Härtegrad noch etwas erhöht und zum ersten Mal kommen Growls ins Spiel. Doch davon sollte man sich nicht abschrecken lassen, der Song hat feinste Keyboardparts im Programm, so an Orgel, Mellotron und auch Clavinet. Auch ‚Another Way To Fly‘ ist eine schöne Nummer, auf der sie wieder eine ausgewogene Mischung aus Frickeligem und Melodiösem anbieten. Und so geht es abwechslungsreich weiter.
Das 9 ½ minütige ‚More To This‘ ist ein weiteres Highlight, zeigt mustergültig ihre Stärken bei Gesangsarrangements und hat hohen Wiedererkennungswert. Und dann kommt in den Ohren des Schreiberlings der Hammer-Song, denn jetzt kommt tatsächlich eine der Referenz-Bands ins Spiel: Gentle Giant. Gleich der Gesangsauftakt zu Beginn lässt keinen Zweifel: hier haben die Protagonisten Gentle Giant gehört und eine ganz eigene GG-artige Nummer kreiert, die noch dazu ungemein spritzig aus den Boxen kommt. Toll!! Als man schon nicht mehr damit rechnete, kommt dann tatsächlich Derartiges auf den Plan. Wobei, wenn man genau hingehört hat, war die Grundmelodie in Ansätzen auch schon im oben genannten ‚Another Way To Fly‘ zu hören.
Auf „Tomorrow“ passt so ziemlich alles hervorragend zusammen: Frickeliges, Melodisches, fette Orgel, bratzige Gitarre und variable Gesänge. Ein rundum überzeugendes Debüt!
In der Zwischenzeit ist aus dem ursprünglichen Studioprojekt auch eine Live-Band geworden, der nun als feste Bandmitglieder auch Wolfgang Zenk (7 for 4, Sieges Even) an der Gitarre und Frank Thumbach (Klima, Rock Antenne Band, Jesse Witney) am Bass gehören.
Der Growls-Allergiker muss ein paar bittere Momente schlucken, wird dafür aber mit einem insgesamt ausgesprochen einfallsreichen, peppigen Album belohnt, das zunehmend Spaß bereitet. Das Quartett überzeugt mit einem ausgesprochen peppigen, abwechslungsreichen Debütalbum zwischen Neo Prog, Prog Metal, Math Rock, Symphonic Rock und Melodic Rock.
Bewertung: 12/15 Punkten (JM 12, KR 12, KS 11)
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Abbildungen: The Ancestry Program