(64:54, CD, Digital, Eigenproduktion / Just For Kicks, 2020)
Wenn man den Prog-Underground beobachtet, könnte man glatt zu dem Schluss kommen, die Zeit der deprimierten Edgelord-Artrocker mit ihren Serienkiller-Fantasien neige sich ihrem wohlverdienten Ende zu. Immer mehr neue Bands tauschen Tool-Riffs und Radiohead-Tribut-Gesänge gegen Spielwitz, massenweise Einflüsse aus allen erdenklichen Genres und, vollkommen unerhört, einer Prise Humor. Auch die Briten I Am The Manic Whale fallen schon seit einiger Zeit mit Alben auf, die sehr wohl klar im Progressive Rock zu verorten sind, sich aber eher wenig um die aktuell gültigen ästhetischen Genre-Vorgaben scheren.
“Things Unseen” ist bereits das dritte Album der Band aus Reading, und im Vergleich zu den Vorgängern gibt es etwas weniger typischen Prog zu hören, dafür rücken die jazzigen und Musical-lastigen Elemente stärker in den Vordergrund. Die lockere Sonnenscheinatmosphäre des Albums erinnert an Neal Morse im Prä-Prediger-Modus, dazu gibt’s auch durchaus rockende Passagen, die aber nie in den frickeligen Prog-Metal abdriften, sondern einfach der Abwechslung zugute kommen und die Musik erfolgreich vor Behäbigkeit schützen. In Bands ausgedrückt: als hätte besagter Herr Morse mit Styx und Steely Dan (“Katy Lied”/”The Royal Scam”-Phase) kollaboriert. Die für die Band typischen Gesangsharmonien werden diesmal etwas sparsamer eingesetzt, was den “amerikanischen” Eindruck der Musik noch verstärkt. Das lässt die Vocals von Bassist Michael Whiteman deutlicher denn je im Vordergrund stehen – und da liegt auch der einzige Schwachpunkt von I Am The Manic Whale . Denn Whiteman trifft fraglos alle Töne und hat eine ganz angenehme Stimme, schafft es aber nicht, den exzellenten Songs das I-Tüpfelchen, den “Starfaktor” aufzusetzen. Dafür klingt er zu nett, zu wenig eigenständig und vor allem, zu wenig gefühlvoll – auch ein Neal Morse hat keine technisch beeindruckende oder extravagante Stimme, reißt das aber durch den emotionsgeladenen Vortrag wieder heraus. Whiteman klingt aber eher nach einem Musiklehrer oder Jugendpfarrer und schafft es leider nicht, sich stimmlich in den ausladend arrangierten Songs zu behaupten, was den durchaus eingängigen Gesangslinien viel von ihrer Wirkung nimmt.
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Andererseits könnte dies auch pure Absicht sein. Denn im Longtrack ‘Celebrity’ prügelt die ansonsten hochsympathische Band offen gesagt ziemlich überheblich auf die “pösen, pösen” Casting-Shows ein und hält ein eher peinliches Plädoyer dafür, in der Musik doch bitte die Technik über “Herz und Seele” zu stellen – was ironischerweise auch genau der Knackpunkt ist, der verhindert, dass die Songs von … Manic Whale ihr volles Potenzial entwickeln können. “It’s the singer, not the song”, das gilt eben auch im Prog, und der wenig beeindruckende bis etwas langweilige Gesang ist tatsächlich der einzige wirkliche Kritikpunkt an der auch – gerade für eine Eigenproduktion – ziemlich gut produzierten Scheibe, die von Rob Aubrey (Big Big Train) auch blitzsauber gemixt wurde.
Mag sein, dass diese Kritik etwas härter klingt, als sie wirklich gemeint ist. “Things Unseen” ist über weite Strecken ein wirklich gelungenes Album geworden, das Vieles richtig macht, und I Am The Manic Whale sind definitiv eine der interessantesten neuen Szenebands. Da beim dritten Album einer Band aber der musikalische Welpenschutz nicht mehr greift, muss sich die Band eben auch gefallen lassen, nach den gleichen Standards wie der Rest der Szene gemessen zu werden. Die gute Nachricht: bis auf die angesprochenen Punkte schlagen sich die vier Briten aber auch dabei mehr als ordentlich.
Bewertung: 11/15 Punkten (SG 11, KR 11)
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