(62:27, CD+DVD, MiG-Music, 2019)
Beim Rockpalast handelt es sich um eine Fernsehsendung des Westdeutschen Rundfunks, welche mit Unterbrechungen seit 1974 existiert. Im Rahmen des Formates wurden in der Vergangenheit auch immer wieder Festivals produziert, um später die Auftritte der verschiedenen Bands im Fernsehen zu übertragen. Der Titel “Live at Rockpalast 1995” für dieses Album ist daher erst einmal ein wenig irreführend, da es sich bei vorliegendem Ton- und Bilddokument um den Auftritt von Paradise Lost beim Bizarre Festival 1995 handelt. Das Bizarre existierte zu diesem Zeitpunkt schon seit acht Jahren und war gerade auf dem Weg, sich zu Deutschlands Festival Nummer Eins für alternative Musik jeglicher Couleur zu mausern. Bis zu diesem Zeitpunkt waren u.a. so namhafte Bands wie Siouxsie and the Banshees, New Model Army, Iggy Pop, Einstürzende Neubauten, Ramones, The Pogues, Pixies, Sonic Youth, Bad Religion, Die Ärzte und Biohazard beim Bizarre Festival aufgetreten. Dabei hatte das Festival über die Jahre hinweg immer wieder seinen Veranstaltungsort gewechselt. Nach mehreren Gastspielen in Berlin und auf dem Loreleyfelsen in Sankt Goarshausen sowie Gastspielen in Gießen und Alsfeld, fand das Bizarre 1994 zum ersten Mal in Köln statt. 1995 kehrten die Veranstalter in die Domstadt zurück. Allerdings wählten sie dieses Mal nicht den Kölner Jugendpark als Location, sondern stattdessen einen staubigen und herzlosen Deutzer Parkplatz namens P23 – jenen Ort, an dem schon im Folgejahr mit dem Beginn der Kölnarena (heute Lanxess Arena) begonnen werden sollte.
Paradise Lost waren 1995 im Zenit ihres Erfolges angekommen. Die Band aus dem englischen Halifax war Anfang der 90er neben Anathema und My Dying Bride zu den “Big Three” des Gothic Metal gerechnet worden. Während My Dying Bride niemals wirklich den großen Durchbruch schafften und Anathema erst Anfang des Jahrtausends mit ihrer Zuwendung zum Progressive Rock zu spätem Erfolg gelangten, hatten Paradise Lost schon mit ihrem 1993er Werk “Icon” erste Charts-Erfolge feiern können. Als zwei jahre später dann das Album “Draconian Times” veröffentlicht wurde, trafen die Briten genau den Zeitgeist. Das Album, welches sich musikalisch irgendwo in der Schnittmenge von Metallica und den Sisters of Mercy bewegte, erreichte Top-25 Platzierungen in zahlreichen europäischen Charts, darunter auch in den Niederlanden, Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Paradise Lost fanden sich auf einmal auf den Titelseiten sämtlicher großen Hard Rock- und Metal-Magazine und wurden als Headliner vieler Metal- und Alternative-Festivals gebucht, darunter das Graspop Festival im belgischen Dassel sowie das legendäre Dynamo Open Air in Eindhoven (NL) mit fast 120.000 Zuschauern.
Auch ich war damals als 17-Jähriger Paradise Lost verfallen, “Draconian Times” war nach Tiamats “Wildhoney” wahrscheinlich das Album, welches in den Jahren ’94/’95 am häufigsten in meinem CD-Player rotierte. Bereits beim Dynamo Open Air 1995 hatten mich Nick Holmes (Gesang), Gregor Mackintosh (Leadgitarre), Aaron Aedy (Rhythmusgitarre), Steve Edmondson (Bass) und Lee Morris (Schlagzeug) total weggeblasen, so dass ich nicht lange fackelte, mir ein Ticket fürs Bizarre Festival zu besorgen, nachdem Paradise Lost als Headliner bestätigt worden waren. Auch das restliche Line-Up war ganz nach meinem Geschmack: Monster Magnet, White Zombie, NOFX, Kyuss, Spermbirds, H-Blockx und Clawfinger spiegelten in ihrer Vielfalt ganz gut meine damalige Sammlung überspielter Musikkassetten wider. Lediglich meine damals schon vorhandene Vorliebe für Progressive Rock wurde nicht bedient.
Rückblickend, heute im Jahre 2020, fast ein halbes Jahrhundert später, habe ich das Bizarre Festival 1995 und insbesondere den Auftritt von Paradise Lost in sehr guter Erinnerung behalten. Auf der einen Seite war es das letzte Jahr gewesen, in dem sich das Festival über lediglich einen Tag erstreckte, auf der anderen Seite sollte ich Paradise Lost nie wieder so hautnah live erleben dürfen.
Schaue ich mir heute das Video aus dem Jahre 1995 an, so ist es für mich an erster Stelle ein Nostalgie-Erlebnis. “No filler, just killer” war das Motto des Abends, und so jagte ein Kracher den nächsten. Paradise Lost spielten eine Art Best Of ihrer beiden letzten Alben “Draconian Times” und “Icon”, garniert mit den beiden größten Hits des ’92er Albums “Shades of God”.
Schon mit ‘Enchantment’, dem Eröffnungssong von “Draconian Times”, hatten Paradise Lost das Publikum um den kleinen Finger gewickelt, oder sollte ich besser sagen, verzaubert…
Es folgten u.a. Bandklassiker wie ‘Forever Failure’, ‘Rememberance’, ‘Shadowkings’, ‘Pity the Sadness’, ‘Hallowed Land’ sowie als Abschluss des regulären Sets, der damalige Single-Hit ‘Last Time’.
Zwar war Nick Holmes stimmlich nicht unbedingt in Top-Form, doch verschleierte der Sänger diesen Makel relativ einfach mit seiner Bühnenpräsenz. Prägendster Faktor im Sound der Band und auch am stärksten an diesem Abend war Leadgitarrist Gregor Mackintosh, der mit seinen Riffs und Soli immer wieder im Mittelpunkt des Bühnengeschehens stand. Die Resonanz beim Publikum war überwältigend, obwohl nicht wenige der Besucher wegen Punk, Hardcore bzw. Crossover nach Köln gekommen waren: jubelnde Menschen mit ausgestreckten Armen bis in die hinteren Reihen des Publikums sowie immer wieder crowd-surfende Fans. Für Kenner der Szene war dies jedoch kein Wunder, so galten Paradise Lost in jenen Jahren als eine der überzeugendsten Live-Bands im Metal-Sektor.
Wer nach knapp 50 Minuten gedacht hatte, dass Paradise Lost jetzt ihr Pulver verschossen hatten, der war falsch gewickelt. Die Band hatte sich drei ihrer größten Hits für die Zugabe aufgehoben: ‘Embers Fire’, ‘As I Die’ sowie das abschließende ‘True Belief’ – drei Energiebündel, welche die Massen erbeben liessen.
Es war ein überwältigender Abschluss eines grandiosen Festivals, das viele Highlights zu bieten hatte. Kritiker, die über die Headliner-Position Paradise Losts den Kopf geschüttelt hatten, waren eines Besseren belehrt worden. Die Briten hatten Monster Magnet und NOFX an die Wand gespielt.
Fazit:
Trotz des antiquierten Bildformates, des semi-professionellen Schnittes sowie des nicht immer perfekten Sounds schafft es die vorliegende Aufnahme sehr gut, die Stimmung des lauen Sommerabends ins Wohnzimmer zu transportieren. Die DVD zeigt Paradise Lost im Zenit ihrer Karriere. Ein Muss für Fans der Anfangstage der Band sowie alle Besucher des Bizarre Festivals 1995. Klangpuristen dagegen sollten lieber ihre Finger davon lassen.
Bewertung: 10/15 Punkten
Tracklist:
1. Enchantment
2. Widow
3. Dying Freedom
4. Forever Failure
5. Shadowkings
6. Remembrance
7. Pity The Sadness
8. Sweetness
9. Once Solemn
10. Hallowed land
11. Last Time
…
12. Embers Fire
13. As I Die
14. True Belief
Surftips zu Paradise Lost:
Homepage
Facebook
Instagram
Twitter
YouTube
Apple Music
Spotify
Reverbnation
Deezer
last.fm
Wikipedia
Surftips zum Bizarre Festival:
Wikipedia
Surftips zum Rockpalast:
Facebook