Die Ukraine ist ein Land, welches auf der musikalischen Weltkarte der Rockmusik bisher praktisch nicht existent war. Zwar gibt es Bands wie 5’Nizza, die in den Nachfolgestaaten der UdSSR Kultstatus erlangt haben, doch Gruppen mit durchschlagendem Erfolg außerhalb dieser Länder suchte man bislang vergeblich. Geändert hat sich dies erst in den jüngsten Jahren, als sich die aus der ostukrainischen Stadt Horliwka stammende Progressive Groove & Death Metal-Band Jinjer daran machte, die Bühnen Europas und Nordamerikas zu erobern. Spätestens seit ihrem 2016er Werk “King of Everything” und Touren mit Arch Enemy und Cradle of Filth, spielen die Mannen um Frontfrau Tatiana Shmailyuk in der zweiten Liga des Metal. Touren im Vorprogramm von Amorphis und Soilwork, sowie Auftritte mit Body Count und Life of Agony, steigerten in diesem Jahr noch einmal den Bekanntheitsgrad der Ukrainer und bereiteten den Weg für den Charts-Erfolg ihres 2019er Albums “Macro” (u.a. Platz 33 in Deutschland). Eine 38 Städte umfassende Headliner-Tour durch 15 europäische Länder war daher nur konsequent und ist vielleicht der letzte fehlende Schritt nach ganz oben.
So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass das frisch renovierte und wiedereröffnete Gebäude 9 in Köln-Mülheim schon mehrere Monate im Voraus ausverkauft ist – genau wie praktisch alle anderen Shows der Macro-Tour. Zur Freude der Fans haben Jinjer nicht nur eine, sondern gleich drei Vorgruppen mit im Gepäck: ein Minifestival sozusagen und das für läppische 20 Kröten.
Ganz ohne Verstimmungen bei den Fans geht es dann allerdings doch nicht. Als bekannt wird, dass die Stagetime des Openers Space of Variations zeitgleich mit der Uhrzeit des Einlasses ist, kommt es zu einem kleinen Shit-Stürmchen im Internet. Glücklicherweise reagiert der Veranstalter prompt, so dass sich der Beginn um eine Stunde nach hinten verschiebt.
Genau wie Jinjer stammen Space of Variations aus der Ukraine, wo sie bereits in den Jahren 2015 und 2017 zur besten einheimischen Heavy Band gekürt worden sind. Als das Quartett, das Metalcore und Post Hardcore mit elektronischen Spielereien mischt, auf die Bühne tritt, ist die alte Industriehalle schon gerammelt voll. Die Zuschauer stehen bis an den Bühnenrand, da es heute keinen Fotograben gibt. Schon mit dem ersten Lied haut der Vierer dem Publikum ganz schön was um die Ohren.
Frontmann Dima Kozhuhar wuselt über die Bühne und schreit dem Publikum in bester Hardcore-Manier seine Texte ins Gesicht, während Gitarrist Alex Zatserkovny mit seinem kontrastreichen Klargesang kaum weniger energiegeladen ist. Der Funke zum Publikum springt schnell über, so dass die Band, die von Anton Kasatkin (Bass) und Tima Kasatkin (Schlagzeug) komplettiert wird, schon nach den ersten Liedern mit lautem Applaus abgefeiert wird. Die Stimmung vor der Bühne nimmt im Laufe des Auftritts immer weiter zu, so dass man denken könnte, man hätte es hier mit dem Headliner zu tun. Am Ende angekommen, wollen die Zuhörer sie gar nicht mehr von der Bühne gehen lassen. Ein Auftakt der die Messlatte für die nachfolgenden Bands verdammt hochhängt!
Khroma
Die aus Helsinki stammenden Khroma haben es dann auch verdammt schwer, die brodelnde Stimmung in der Halle aufrechtzuerhalten. Zwar scheitern sie nicht an der Aufgabe, dafür ist das Publikum einfach zu gut drauf, doch wirklich überzeugen können die vier Finnen auch nicht. Dafür ist ihre Mischung aus brachialen Industrial-Sounds, Nu Metal und Djent einfach etwas zu unterkühlt. Zudem kommt, dass die elektronischen Sounds nicht optimal abgemischt sind und zu sehr im Hintergrund bleiben.
Doch auch Khroma sind natürlich weit davon entfernt, einen schlechten Auftritt abzuliefern. Vor allem Mikko Merilinnas Gitarrenriffs gehen tief ins Mark, während Antti Honkas präzise und abwechslungsreiche Schlagzeugarbeit einem teilweise den Mund offen stehen lässt. Gepaart mit Riku Rinta-Seppäläs Shouts und Maarik Leppäs tiefgestimmten Bass, fühle ich mich des öfteren an frühe Fear Factory erinnert. Auch optisch machen die vier Herren einiges her, da vor allem Bassist Leppä mit seinen tiefen Verrenkungen und Gitarrist Merilinna mit seiner wirbelnde Matte für einiges an Dynamik auf der Bühne sorgen.
Alles in allem frage ich mich am Ende ihrer Performance aber, ob die Finnen mit ihrem Musikstil im Billing nicht ein wenig fehl am Platze waren…
The Agonist
Zurück zur ausgelassenen Party-Stimmung geht es wieder, als die Kanadier von The Agonist die Bühne betreten. Der Fünfer aus Montreal hat sich dem Melodic Death Metal verschrieben, welchen sie mit Progressive Metal- und Metalcore-Elementen durchsetzen.
Frontfrau Vicky Psarakis schafft es schnell, das Publikum, mit ihrem Charme und ihrer Bühnenpräsenz um den kleinen Finger zu wickeln. Auch gesanglich kann die US-amerikanische Sängerin mit ihrer variablen Stimme überzeugen: sie schafft die perfekte Verbindung zwischen Brutalität und Melodiösität.
Die drei Saiteninstrumentalisten Danny Marino (Gitarre), Pascal Jobin (Gitarre) und Chris Kells (Bassist) sorgen durch ihre ständigen Positionswechsel für reichlich Dynamik auf der Bühne. Gepaart mit ihrem tighten Sound und der tadellosen Schlagzeugarbeit Simon McKays, kann die Band über weite Strecken überzeugen, ohne dabei ganz die Durchschlagskraft von Space of Variations zu erreichen.
Einziges wirkliches Manko: mit knapp einer dreiviertel Stunde ist die Spielzeit der Nordamerikaner viel zu kurz.
Als nach einer gefühlt genauso langen Umbaupause endlich die Lichter ausgehen, taucht an Stelle von Jinjer ein dreiminütiger Countdown auf der Bühne auf. Die langsam ablaufende Digitalanzeige erhöht noch einmal das Maß der Spannung bei den Fans, vor allem, da als Einstimmung auf die Band das Intro von ‘lainnereP’ erklingt, dem letzten Stück vom aktuellen Album “Macro”.
Als die vier Ukrainer dann endlich zu den ersten Takten von ‘Teacher Teacher’ auf der Bühne erscheinen, ist das Publikum im vollgestopften Gebäude 9 kaum mehr zu halten. Lediglich der Platzmangel vor der Bühne hindert die Fans daran, die Halle in einen Moshpit zu verwandeln. Aufgrund der Enge gibt es stattdessen Headbangen und Rumgehopse auf engstem Raum.
Jinjer sprudeln schon vom ersten Moment nur so vor Energie, was sich vor allem dadurch zeigt, dass Frontfrau Tatiana Shmailyuk wie ein Wirbelwind über die Bühne fegt. Trotzdem erscheint ihre Performance auf der Bühne in hohem Maße professionell und routiniert. Die ganze Show scheint auf die Frontfrau abgestimmt zu sein. Zurecht, denn die Sängerin ist heute nicht nur Blickfang und optischer Mittelpunkt der Band, sie überzeugt auch eindrucksvoll mit ihrer powervollen Stimme, die immer wieder spielend zwischen wundervollen Melodien und brutalen Death Metal-Growls hin- und her wechselt.
Aber auch Bassist Eugene Abdukhanov liebt es gesehen zu werden, so dass er sich immer wieder vor eine der drei LED-Tafeln stellt, um im Gegenlicht zu posen.
Musikalisch bieten Jinjer ihren Fans heute die volle Metal-Breitseite. Roman Ibramkhalilovs Gitarrenriffs sind gnadenlos groovy, Abdukhanovs Bass wummert, während der Schlagzeugsound von Drummer Vladislav Ulasevich Mörsereinschlägen gleicht. Was in seiner Wucht und Energie an diesem Abend seines gleichen sucht hat allerdings auch seinen Nachteil. Vor allem die ruhigen und melodiösen Anteile in Jinjers Sound kommen heute nicht ganz so optimal rüber wie auf den Alben. Dies wird vor allem bei der Reggae-inspirierte Single ‘Judgement (& Punishment)’ deutlich. Allerdings scheine ich mit meiner Kritik alleine auf weiter Flur zu sein. Das Publikum ist vom Geschehen auf der Bühne derart angefixt, dass solche Nuancen leicht zur Nebensächlichkeit werden.
Viel wichtiger ist es da doch, dass Jinjer einen guten Abriss ihres musikalischen Backkataloges vortragen und sich die neuen Songs von “Micro” und “Macro’ perfekt zu alten Klassikern wie ‘I Speak Astronomy’ und ‘Words Of Wisdom’ dazugesellen.
Natürlich kann der Abend nicht zu Ende gehen, ohne dass Jinjer ihren größten Erfolg zum besten geben und so kommen sie am Ende des Abends noch einmal auf die Bühne zurück, um den Fans ihr geliebtes ‘Pisces’ zu präsentieren.
Trotz kleinerer Abzüge in der B-Note können Jinjer überzeugen. Die Band wird von den Fans abgefeiert. Bestimmt nicht zum letzten Mal in Köln, aber wahrscheinlich zum letzten Mal im (dafür) viel zu kleinen Gebäude 9.
Text und Live-Fotos: Floh Fish
Setlist:
Space of Variations
Khroma
The Agonist
Jinjer
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