Mein Vater und Magma. Ein etwas anderer Konzertbericht.
Frankfurt, 20. Oktober: Mein Vater und ich sitzen vor unserem Hotelfrühstück, Marmeladenbrötchen mit Kaffee, und schauen in den halbleeren Speisesaal, als mir eine grandiose Idee in den Schoß fällt. Am vorigen Abend sahen wir im Batschkapp Magma, und anstatt einen gewöhnlichen Konzertbericht zu schreiben, würde ich meinen Vater zu dem Ereignis befragen! Bis vor Kurzem hatte er keinen blassen Schimmer von der Musik der französischen Kultband gehabt. Er war dennoch neugierig geworden und war fest entschlossen gewesen, mich zu begleiten. Wie soll man sagen: Er warf sich selber ins eiskalte Wasser.
Herausgekommen ist ein Interview, in dem es am Ende um viel mehr geht, als nur um Zeuhl…
Was hast du dir gedacht, als ich dich damals gefragt habe, ob du bei Magma mitfahren willst?
Mein Vater: Also spontan, sofort „ja“, ist ja nicht unser erstes Konzert, das wir zusammen unternehmen. Magma waren mir zumidnest vom Namen her ein Begriff. Ich wusste, es geht hier um Zeuhl, um Kobaïa, um etwas Besonderes, mehr aber nicht. Vorgeimpft wurde ich durch einen Bericht aus dem Fernsehen. Auf ARTE gab es da eine Dokumentation über Progressive Rock, in der Magma auch erwähnt wurden.
„Betreutes Proggen“, der Name suggeriert ja immer auch etwas Generationenübergreifendes. Die Jungen und die Alten tauschen sich über Musik aus. Deswegen die Frage: Wie bist du eigentlich damals zum Progressive Rock gekommen?
Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich Kontakt mit der Pop- und Rock-Musik aus den 60ern und 70ern. Das kommt hauptsächlich von meinen älteren Geschwistern. Ich war damals vielleicht vier oder fünf Jahre alt, da kam mein ältester Bruder nach Hause mit seinem ersten Mono-Plattenspieler, den er sich von seinem Geld als Azubi gekauft hat. Er hatte Kontakte zu irgendwelchen Beat-Schuppen, die es damals gab.
Zu meiner Zeit wurden ja hauptsächlich Singles gehört. Da waren viele triviale Sachen dabei, aber auch schon Experimentelles und Psychedelisches, wie z.B. Cream, Deep Purple, Rolling Stones oder Status Quo. Später kamen Rock und Blues Rock dazu, Ten Years After, Bad Company.
In meinem 13., 14. Lebensjahr ungefähr bin ich dann zum Progressive Rock gekommen, hatte aber deswegen auch Konflikte mit meiner Familie, den Geschwistern. Es gibt da ein besonderes Schlüsselerlebnis. Ich war 13 Jahre alt, es war 1977, der deutsche Herbst, das Jahr der Schleyer-Entführung. Es gab dazu im Radio eine Sondersendung, und bei Thomas Gottschalks „Pop nach acht“ hörte ich zum ersten Mal Barclay James Harvest. Tatsächlich war das meine allererste Prog-Erfahrung.
Man muss dazu sagen, in dieser Zeit war der Begriff Progressive Rock kaum geläufig. Ich habe zum Beispiel Barclay James Harvest immer als Soft Rock eingestuft. Klar hatten BJH auch Sachen, die man heute ganz klar dem Prog zuordnen würde. Und, ja, über BJH bin ich dann später auch zu Genesis gekommen.
Der Schritt ist gar nicht mal so unlogisch.
Ja, klar, ist nicht so unlogisch.
Ich hatte zu dieser Zeit immer ein Genesis-Poster über meinem Bett hängen. Niemand in meiner Familie mochte Genesis, weil das als „zu kompliziert“, „zu verkopft“ galt. Aber genau das hat mich erst recht animiert, ich wusste, „das muss etwas Besonderes sein“. Das Poster war von “Second’s Out”, es hing dort zwei Jahre lang, aber ich hatte nie Gelegenheit, mir die Musik selbst anzuhören.
Meine erste Genesis-Platte war dann „And then there were three…“, und das war für mich eine Offenbarung. „Das ist fantastisch“, dachte ich, obwohl es freilich nicht ihre beste Platte ist. Dann bin ich auf das „Live“-Album gestoßen, mit Peter Gabriel. Es hat mich absolut umgehauen – die verspielten Gitarren, die bombastischen Mellotron-Einlagen, der Soul-Gesang von Gabriel, das komplexe Schlagzeugspiel von Collins, die verschachtelten Melodien, eben die Merkmale des klassischen Progressive Rock.
Seitdem sind ja auch einige Jahre vergangen. Was sind die wichtigsten Bands aus diesem Genre, die du zu deinen großen „Meilensteinen“ zählen würdest?
Man muss dazu sagen, in den 70ern war ja wenig Geld da, ich war noch Schüler.
Eine wichtige Band aus dieser Zeit, die ich noch erwähnen möchte, sind Kansas. Damals auch eine meiner absoluten Lieblingsbands, und zu Genesis sind dann noch andere hinzugekommen.
Danach wird’s schwierig. Die 80er Jahre waren davon geprägt, dass der Prog einen absoluten Bruch erlitten hat. Genesis, Kansas, Camel, sie haben alle angefangen, kommerzielle Sachen zu machen. Das Problem war auch, überhaupt Informationen zu bekommen, was es sonst noch an Prog gibt.
Dann kam aber der Neoprog, Marillion zum Beispiel. Das war für mich die bedeutenste Entdeckung in der Zeit, weil sie eben noch ganz nahe an dem symphonischen Stil der Progressive-Rock-Bands waren. Ich kannte auch IQ oder Saga. Man wusste, sie hatten einen ähnlichen Stil, aber es gab noch nicht diesen festen Genrebegriff „Progressive Rock“.
Marillion mit Fish waren wirklich gut, sie hatten sehr großen Erfolg in Deutschland. Krönung war damals natürlich „Misplaced Childhood“, das hat wirklich eingeschlagen, u.a. mit ‘Kayleigh’ als erfolgreiche Hitsingle.
Auch erst spät entdeckt habe ich Yes in den 80ern. Eine große Erleuchtung war für mich “Relayer”. Ich wusste zwar, dass man mit einem Werk mit Rick Wakeman am Keyboard einsteigen müsste, aber ich habe mir eben das Album mit Patrick Moraz geholt. Das ging richtig ab.
Ich weiß noch, du hast mir damals “Relayer” auf Platte vorgespielt, es war eine meiner ersten Prog-Erfahrungen. Wir haben uns damals vor dem Plattenspieler hingesetzt und gemeinsam ‘Gates of Delirium’ angehört. Du hast mir gesagt, „stell dir vor, es ist eine Schlacht“, und dann habe ich auch verstanden, was die Band mit der Musik erreichen wollte.
In den 90ern kamen ja dann Bands wie Spock’s Beard und Flower Kings…
Naja, das kam eigentlich erst später bei mir. Es gab eine Band und einen Künstler, die die 90er für mich dominierten: Fish und Marillion mit Hogarth. Es war fast eine Sucht. Ich habe Fish geliebt, auch seine Solo-Platten fand ich fantastisch. Ein toller Performer mit einer tollen Band.
Natürlich wurden mir damals auch andere Bands vorgestellt, Pendragon zum Beispiel. Aber da habe ich einfach nicht den Zugang gefunden. Bei Marillion aber, die hatten genau den Sound, und mit Hogarth genau die Stimme, die bei mir eine starke Wirkung entfaltet haben. Natürlich habe ich nebenbei auch die ganzen anderen Interpreten gehört, weiterhin Genesis, Peter Gabriel, was damals eben angesagt war.
Aber in dieser Zeit herrschte trotzdem eine große Leere. Es gab so viele gute Musik, aber wie kommt man da eigentlich ran? Es gab in den 90ern noch keine Online-Plattformen. Das hat sich dann erst Ende der 90er mit der Anschaffung des ersten internetfähigen PCs geändert.
Die Babyblauen-Seiten waren ja für uns eine sehr wichtige Quelle von Anfang an.
Genau. Dann gab es natürlich auch die Internetradios. Prog wird ja bekanntlich nicht oft im Radio übertragen. Man musste viel Glück haben, um an Informationen zu kommen. Das Internet ist da der große Taktgeber geworden.
Du bist also jemand, der eher aus dem „melodischen Bereich“ kommt. Aber: Du hast zum Beispiel dort in deinem Plattenregal seit Kurzem eine Zappa-LP stehen. Den hast du ja auch für dich entdeckt. Und er ist ja schon manchmal hart an der Grenze.
Ja, ich habe mich da irgendwie nie rangetraut. Heute ärgert es mich, dass ich mir nie etwas von ihm gekauft habe, wie zum Beispiel „One Size Fits All“ oder „Sheik Yerbouti“.
Zappa ist eine absolute Spätentdeckung für mich. Es darf schon mal richtig „frickeln“.
King Crimson haben wir ja dieses Jahr auch Live gesehen.
Ja, die waren auch ganz wichtig.
Also, es darf für mich schon auch gerne mal heftig werden. Es muss aber auch ein roter Faden erkennbar sein, irgendeine Melodie. Ein gewisser Zugang muss einfach da sein, auch bei komplexerer Musik. ‘Revolution Nr 9’ von den Beatles z.b. ist halt eine Klangcollage, würde ich mir aber nie im Auto anhören. Musik hat eben auch etwas mit Harmonie zu tun.
Die Balance aus Komplexität und Melodiösität.
Ja. Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit, aber manchmal eben auch nach Härte.
Deswegen ist Metal so beliebt – er liefert genau dieses Wechselspiel.
Kommen wir zum eigentlichen Thema – das Magma-Konzert! Erzähle ein bisschen darüber, wie der Tag für dich war.
Naja, wir mussten bei der Anreise nach Frankfurt dreißig Minuten im Stau stehen, das Wetter war schlecht. Aber so eine Vater-mit-dem-Sohn-Aktion gefällt mir eigentlich immer ganz gut. Ich zumindest war total entspannt. Ich habe nicht so den Bezug zu Magma, wie du ihn hast…
Ich war total aufgeregt (lacht)…
Aber ich glaube, das ist normal, wenn man auf ein Konzert eines Künstlers geht, den man wirklich schätzt.
Warst du schon mal so aufgeregt?
Ja, das war die Brave-Tour mit Marillion. Die habe ich damals in München gesehen. Aufgeregt war ich damals schon auch.
Aber man hat eben gemerkt, dass die Magma-Fans alle sehr relaxt und entspannt waren und die Band sehr gut kennen. Bemerkenswert war ja eben auch die Begegnung mit Charly Heidenreich, einem Die-Hard-Magma-Fan.
Zum Konzert: ‘De Futura’ hat auf der Setlist den Anfang gemacht. Einer der wenigen Songs, der nicht von Schlagzeuger und Bandleader Christian Vander komponiert wurde, sondern vom damaligen Bassisten Jannick Top. Entsprechend basslastig, düster und martialisch klingt die Nummer auch. Und ist deswegen in gewisserweise auch eine Art Blaupause für bestimmte Spielarten des Metal geworden.
Ich dachte: Hoppla, das ist nicht der klassische Progressive Rock. Es war sehr groovig, sehr rhythmisch, ging richtig ab. Man hätte fast drauf tanzen können. Ging in die Beine. Nur eben darf man sich keinen Rhythm’n’Blues dabei vorstellen, sondern, da sind wir eben beim Zeuhl, es ging ins Mythische, Orffsche. Der Gesang hatte Ähnlichkeiten zu ‘Carmina Burana’, hinzu kam eben auch das Vibraphon, das ich absolut fantastisch fand. Das Zusammenspiel zwischen Keyboard, Vibraphon, Schlagzeug und Gesang, das hatte schon etwas sehr Besonderes. Alles wurde mit einer Perfektion vorgetragen – das kann sicher nicht jede Band nachspielen. Es hatte schon etwas Unheimliches, Treibendes.
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Die zweite Nummer war offenbar ein Medley aus der Theusz-Hamtaahk-Trilogie. Da waren zum Teil auch Passagen dabei, die sehr melodiös waren. Als Zugabe spielte die Band ‘Kobaia’, den ersten Song vom ersten Magma-Album. Und das ist zum Beispiel ein veritabler Rocker, mit einem gewissen Funk-Einschlag.
Man hat’s auch bei der Zugabe dann gemerkt, bei der Reaktion vom Publikum. Ich kannte ja keinen einzigen Song, alles böhmische Dörfer für mich – aber das scheint wirklich ein Klassiker zu sein. Sehr eingängig, aber eben auch „kobaianisch“…
Einer der wenigen Magma-Songs mit englischem Text…
Ja stimmt. Was mir aufgefallen ist, ich habe mich schwer getan, Anfang und Ende der Stücke zu erkennen. Es war vom Rhythmus durchgehend treibend, vom Tempo meistens relativ gleich.
Es gibt bei Magma nicht die „klassische Ballade“, aber bei diesem Konzert haben sie als zweite Zugabe ja dann ein Stück von Offering gespielt, dem Solo-Projekt von Vander. In den 80ern ging er damit in eine ruhigere Soul- und Jazz-Ecke.
Christian Vander hat eine fantastische Stimme. Ich war sehr überrascht, dass man aus dieser sehr seltsamen Sprache eine wunderbare Musikalität herausholen kann. Das Konzert war in relativ hohem Tempo gehalten, und dann kam eben dieses langsame Stück, bei dem Vander gezeigt hat, dass er für sein fortgeschrittenes Alter nicht nur ein hervorragender Schlagzeuger, sondern auch ein klasse Sänger ist. Dieses Kobaianische hat einen sehr intensiven Klang, es wurde sehr intensiv vorgetragen. Wie perfekt diese Sprache zu der Musik passt. Das war für mich sehr eindrucksvoll.
Man muss ja dazu sagen, es gibt Sprachen, die passen überhaupt nicht zu bestimmten Genres. Wenn sie französisch gesungen hätten, hätte diese Band, behaupte ich mal, heute nur halb so viele Fans. Kobaianisch ist vielleicht der Versuch, eine Art Esperanto finden, eine Sprache, die überall gehört werden kann.
Kobaianisch geht ja eigentlich aus dem Skat-Gesang hervor, woran man wieder die enge Verwandschaft Magmas zum Jazz sieht. Skat ist der Versuch, die Stimme als Solo-Instrument zu gebrauchen, wie in ‘Minnie the Moocher’.
Für das Solo von ‘Mekanik Destruktiw Kommandoh’ beispielsweise ließ sich Vander etwas Ungewöhnliches einfallen. Hinter seinem Drumkit ahmte er mit seiner Stimme ein Saxofon nach und „spielte“ entsprechend mit seinen Fingern auf dem Mikrofon.
Das Konzert hat dir also gefallen?
Ja, durchaus. Ich war begeistert. Für mich war es eine „Lektion in Kobaianisch“. Diese Band ist es Wert, ihr ein Ohr zu schenken, auch wenn die Musik für einen nichterfahrenen anstrengend sein kann. Aber sie ist rhythmisch, ambitioniert, einzigartig. Man sollte sich mit ihrer Diskografie durchaus mal befassen.
Was würdest du jemandem sagen, der Magma nicht kennt?
Schwierig. Es gibt dieses Zitat: „Über Musik zu sprechen ist, wie über Architektur zu tanzen.“
Um jemanden an so etwas heranzuführen, müsste man mal einen gemütlichen Abend mit Freunden machen, sich zusammensetzen und sich der Musik hingeben. Das gilt ja auch für Klassik oder Jazz.
Man kann nicht einfach in einer Gesellschaft, in der hauptsächlich Pop gehört wird, hergehen und Magma auflegen, denn sonst wird sofort gemeckert. „Um Gottes Willen, schalt das aus.“ Man muss ganz gezielt mit der Person die Musik bewusst anhören. Dieser jemand muss eben dann mindestens eine LP-Seite aushalten, und dann kann man immer noch sagen „Oh Gott, das ist fürchterlich“ oder „Hey, das ist interessant“. Gerade bei komplexer Musik braucht man Zeit. Das Angebot ist ja groß.
Oder man macht es so wie ich, und nimmt dich einfach mit auf’s Konzert.
Es gibt so Vieles, es wird einem zum Beispiel bei Spotify immer etwas Neues empfohlen. Aber die Musik braucht Zeit, um sich zu entfalten. Wie ein gutes Buch.
Man macht die Erfahrung mit etwas Fremden. Die Musik von Magma klingt ja auch wie von einem fremden Planeten. Man muss also seine Hörgewohnheiten überwinden, sich in einen anderen „Modus“ begeben, mit anderen „Ohren“ hören.
Man muss versuchen, diese Sachen unabhängig von anderen Bands oder Genres zu hören. Ganz klar. Es geht ja bei Magma auch um etwas „Höheres“, um Mystisches, um Kontakt mit Außerirdischen.
Eine space opera, quasi.
Genau.
Vielen Dank für das Interview! Das letzte Wort gehört dir.
Prinzipiell wünsche ich mir, dass wir weiterhin zusammen auf Konzerte fahren und so unseren musikalischen Horizont gemeinsam erweitern. Es ist wichtig, dass man immer etwas Neues entdeckt.
Surftipps zu Magma:
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Ein Kommentar
sehr schöne idee, die vater-sohn-konzert-reise auch gleich für ein interview zu nutzen. und besonders interessant, daß hier der jüngere, also BENJAMIN, der “erfahrene” ist, die band kennt und versucht, sie seinem vater nahe zu bringen. in den meisten fällen ist das ja eher anders herum, zumindest meiner erfahrung nach. schön beschrieben vom vater ist auch die “hörtechnische” entwicklung, die er gemacht hat, und daß er sich z.b. trotz seines absoluten faibles für MARILLION die offenheit für wesentlich vertrackteres und sperrigeres bewahrt hat. ein richtiges familienidyll, wäre nur noch erwähnenswert, welche musik die mutter hört und wie sie mit den musikalischen vorlieben ihrer “jungs” umgeht…