Wadada Leo Smith – Rosa Parks: Pure Love

(71:42, CD, TUM RecordsBroken Silence, 2019)
Legenden muss man erkennen, so lange sie noch leben. Das gelingt oft genug nur denen, die sich offen und interessiert am Andersartigen, am Unzugänglichen und Transgressiven zeigen, denn hier entsteht naturgemäß immer das Neue. Eine gewisse Schmerztoleranz will sich das Ohr dabei antrainiert haben, um trotz Experimenten und der Abwesenheit schmeichelnder Harmonien nicht nach wenigen Minuten abzuschalten und das Ganze nur noch durchzuhören. Genau das könnte aber sollte dem geneigten Hörer bei dem Tribut-Album für die Bürgerrechtlerin Rosa Parks nicht passieren, das Jazz-Maestro Wadada Leo Smith jüngst veröffentlicht hat.

Denn “Rosa Parks: Pure Love” ist ein eklektizistisches Oratorium in 15 Akten, unterteilt in sieben Songs zwischen Kammermusik, Free Jazz und Avantgarde-Mentalität, die nicht viel auf Genrekonventionen geben, seien sie nun im Jazz oder klassischer Musik verhaftet. Die dramatische Gesangsform der Stücke entspricht ihrer Thematik und verhilft dem historischen Narrativ, das Smith vertont, zu einer gewissen Größe. Zwischen emotionalen Ausbrüchen, lang aufbauenden Spannungsbögen und einer dennoch konzisen Instrumentierung, ist die Szene in einem Bus in Montgomery Anfang Dezember 1955 akustisch abgebildet. Parks war bei weitem nicht die erste Person, die sich damals weigerte ihren Sitzplatz aufgrund ihrer Hautfarbe zu räumen. Doch erst ihre Geste sorgte für einen einjährigen Boykott der Busunternehmen der Stadt und damit für die erste direkte Aktion der Bürgerrechtsbewegung in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. “Rosa Parks übte sich zur richtigen Zeit in der richtigen Form von Widerstand”, stellt Smith dazu in Interviews immer wieder fest. Ihr Widerstand inspirierte erst die Menschen in ihrer direkten Umgebung, dann zahllose im gesamten Land – bis Millionen der Bürgerrechtsbewegung folgten. Ein Beispiel dafür, wieviel wir als Einzelne doch imstande sind auszurichten.

Smith schrieb das Stück gemäß seiner thematischen Größe für drei Vokalisten, ein Streichquartett (Red Koral Quartet), ein Trompetenquartett (Blue Trumpet Quartet), Schlagzeug und elektronisches Gerät, verarbeitet aber auch frühe Aufnahmen, die mit seinen ehemaligen Kollegen von Creative Construction Company entstanden: Anthony Braxton, Leroy Jenkins und Steve McCall. Dabei ist das Album mehr kammermusikalischer Drone, mit surrealen Effekten und dräuenden Violinen ausstaffiert und nur stellenweise mit Jazz in Verbindung zu bringen, vor allem aber dann, wenn die Trompeten aufheulen. Hervorzuheben sind natürlich die Leistungen von Carmina Escobar, Karen Parks und Min Xiao-Fen, deren passionierte Gesänge beträchtlich zur Kraft der gesamten Komposition beitragen. Nachdem Wadada Leo Smith bereits mit “Ten Freedom Summers” und “America’s National Parks” politisch aufgeladene Arbeiten veröffentlichte, zeigt dieses Album erneut die Relevanz des Improvisateurs und Ensemblekonzepters für den zeitgenössischen Jazz.

Was bleibt, ist ein ambitioniertes Werk von zeitgeschichtlicher Tragweite, dessen Lektionen von sozialem Ungehorsam, direkter Aktion und Zivilcourage im Jahr 2019 mindestens so aktuell sind wie 1955.
Bewertung: 11/15 Punkten (KR 11, NS 11)

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