(76:21 , CD, TAC [Territoire Art & Création], 2018/19)
Die südamerikanische Kulturszene ist der gelebte Beweis für hohes musikalisches Gespür, Lebensfreude pur und eine bemerkenswerte Kreativität neue Stilrichtungen zu entwickeln oder mit Althergebrachtem zu Neuem zu verschmelzen. Jenseits des Atlantiks bleibt den Europäern allerdings diese Vielzahl an hoch begabten Künstlern und Bands oftmals verborgen, auch wenn es gerade diese in unserer schnelllebigen Zeit verdient hätten, deutlich mehr Anerkennung und Popularität zu erhalten. Nur selten ist es lateinamerikanischen Künstlern vergönnt sich auch in unserer westlichen Hemisphäre eindrucksvoll und dauerhaft zu etablieren. Man denke nur an den Begründer des Tango Nuevo Astor Piazzolla, die Jazz Musiker Lalo Schifrin, Antônio Carlos Jobim, Milton Nascimiento, Sänger Rubén Blades sowie die Popikone Gloria Estefan, um nur eine handvoll Künstler zu nennen. Rock oder gar Progressive Rockbands fanden und finden hierzulande auch heute noch nur wenig Gehör. Argentinische Bands wie z.B. Nexus, Rael oder Ünder Linden sind nur den eingefleischten Musikfans der Szene ein Begriff, das trifft sicherlich umso mehr auf Orquesta Metafísica zu, einer 2009 in Buenos Aires gegründeten und nunmehr in Paris ansässigen Formation. Musikalisch ist die als Septett entstandene Band nur sehr schwer zu klassifizieren. So wird weder vor Prog, Rock, Klassik, Jazz, Fusion, traditionellem Tango noch vor Folk, Avantgarde, Latin oder anderen Stilrichtungen Abstand genommen. Dass daraus ein lebhafter, unvergleichlicher Mix entsteht, verwundert nicht.
Ohne diese ernsthaft, vor allem stilistisch mit Orquesta Metafísica miteinander vergleichen zu wollen, fällt einem ähnlich energiegeladen und kreativ im Erscheinungsbild, Snarky Puppy als trendige und aufstrebende Band ein.
Der Komponist, Pianist und Keyboarder Sebastián Volco – der klassische und volkstümliche Musik studierte und gleichfalls über langjährige Erfahrung in der argentinischen Tango- und Rockszene verfügt – verkörpert mit dem Bassisten, Produzenten und Arrangeur Sebastián Rosenfeldt, – einem renommierten Spezialisten für Ambient-Musik und elektronischem Tango – das Herz der Band Orquesta Metafísica. Nach dem Debütalbum „7 Movimientos“ (2011) veröffentlichen die Argentinier 2019 mit „Hipnotizados“, was auf Deutsch hypnotisiert heißt, einen sehr ambitionierten gar sozialpolitischen Nachfolger.
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Die Instrumentalkompositionen des Albums „Hipnotizados“ sind collagenhaft mit realen politischen Reden öffentlicher Persönlichkeiten oder Twitter-Botschaften in Form von Hörbeispielen verknüpft. Aktuelle Themen wie Patriotismus, Sicherheit, Religion, Weltwirtschaft, neuem technologischen Fortschritt oder die stetig wachsende Fremdenfeindlichkeit stehen im Mittelpunkt der musikalischen Auseinandersetzung. Die Welt wird regiert von fragwürdigen Personen wie Trump, Bolsonaro, Kim Jong Un oder Netanyahu. Menschenverachtung und krude Lebenstheorien bestimmen immer mehr das Weltgeschehen. Angst, unreflektierter Gehorsam, Paranoia und Misstrauen sind ständige Begleiter. Die Covergestaltung ist in passender Weise auf die historischen Inhalte und Tondokumente des Albums abgestimmt. Bunt, vielfältig, unruhig, Illustrationen die auf sarkastische Weise auf die polarisierenden Themen der Welt eingehen und die Aussagekraft des Albums auf eine bemerkenswerte Art verstärken. Die Argentinier beklagen die unablässige Bedrohung der politischen Führungselite mittels demagogisch drohender Wortwahl. Die Völker sind immer häufiger der subtilen Manipulation ausgesetzt. Eine Elite übt ihre Herrschaft über den Rest der Bevölkerung aus und das nicht nur weil sie sich selbst durchsetzen kann, sondern weil sie die untergeordneten Klassen dazu bringt, diese Form der Unterdrückung, als legitim zu akzeptieren. Mit dem Überschreiten musikalischer Grenzen, dem Nichtfesthalten an festen Stilrichtungen symbolisieren die Musiker eindrucksvoll die Zerrissenheit unserer Gesellschaft, als auch die beängstigenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse einer sich verändernden Welt.
Zwischen Melancholie und wütenden Ausbrüchen leben die Musiker ihre innersten Gefühle aus.
Das Album hält uns ein Spiegelbild der Gesellschaft vor. Musikalisch auffallend sind der Einsatz von Streichern und dem Bandoneon (das für den Tango typischste Instrument).
Verweise auf Tango, Jazz und Progressive Rock, Experimente mit elektronischer Musik und diverse andere Einflüsse, die u.a. von Pink Floyd über King Crimson bis zu Astor Piazzolla, von Steve Reich über Igor Stravinski bis hin zu David Bowie reichen, kennzeichnen „Hipnotizados“. Daraus entwickelt sich ein außergewöhnliches Klangerlebnis.
Den Argentiniern ist es gelungen, ein bemerkenswertes Werk zu schaffen und das in mehrfacher Hinsicht. Musikliebhaber dürften über die Originalität der Kompositionen, der hohen Qualität der Arrangements und der kreativen Einbindung historischer Hördokumente erfreut sein. Langeweile hört sich anders an. Wer Sinn für das Besondere hat, hier gibt es eine gute Gelegenheit den eignen Horizont zu erweitern.
Bewertung: 12/15 Punkten (KR 12, HR 12)
LineUp:
Sebastián Volco: Piano, Minimoog, Fender Rhodes, Keyboards
Sebastián Rosenfeldt: Bass, Basscello, Chapman Stick, Programming
Silvio Ottolini: Drums
Salvador Toscano: Drums auf ‚Hiromy‘
Yaping Wang: Vangqin
Clement Janinet: Violine
Andrea Pujado: Violine auf ‚Estrujamientos‘
Miguel Yanover: Bariton Sax, Tenor Sax, Sopran Sax
Robby Marshall: Tenor Sax, Clarinete
Pablo Gignoli: Bandoneón
Lysandre Donoso: Bandoneón auf ‚Anestesia‘ und ‚Hiromy‘
Pablo Nemirovsky: Bandoneón auf ‚Anestesia‘ und ‚Amnesia‘
Quartett de Cuerdas: Verónica Votti (Cello), Andrea Pujado (Violine), Anne Le Pap (Violine), Romain de Mesmay (Violine)
Yulia Dyukova, Javier Boente: Vocals
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