(42:56, CD, No Name Records, 2014)
Über Russland soll Churchill mal gesagt haben, dass es ein Rätsel in einem Mysterium, ummantelt von einem Geheimnis sei. Gemeint war die Unmöglichkeit der Voraussicht russischer Kriegshandlungen zu Beginn des zweiten Weltkriegs. In einem weiteren Sinne ließe sich diese Formel aber auch auf Russland als flächenmäßig größtes Land des Planeten anwenden, in dem über zwölf Zeitzonen hinweg mehr als 100 Sprachen gesprochen und Dutzende Religionen praktiziert werden. Nicht zuletzt schlägt diese Ambivalenz auf die dortige Musikszene durch, die sich bei näherer Betrachtung als extrem heterogenes Gebilde erweist. Denn die russische Gesellschaft ist zerstreut über Räume und Epochen: Während in Städten wie Moskau oder Wladiwostok, aber auch Omsk und Krasnoyarsk das Digitalzeitalter unter den fein ausstaffierten Häuserfassaden schon weitgehend angekommen ist, gibt es im Herzen Sibiriens auch Dörfer und Kleinstädte, die noch wie vor hundert Jahren organisiert sind – und auch ähnlich aussehen. So findet man in Russland vom urtümlichen Kehlkopf-Drone Phurpas, über den filigranen Microhouse einer Nina Kraviz bis hin zum krachenden Jazzcore von Brom eine beachtliche Bandbreite an kreativen Musikern, deren Songwriting und Instrumentierung aus dem Westen betrachtet ebenso keck wie authentisch und unkonventionell erscheint.
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Gut, beim Thema Hard Bop und Free Jazz ließen sich derlei Eigenständigkeitsallüren wohl bei fast jedem Akteur finden, der irgendwie mal halbwegs schräg in ein Tenor-Saxophon gepustet hat. Doch so prätentiös ist die Musik von Brom nicht: Neben diesem improvisatorischen Aspekt birgt ihr Sound nämlich auch jede Menge Punk-inspirierte Bässe von Projektkonstante Dmitry Lapshin, wie in ‘Ветошь’ oder ‘Факел’. Über experimentell vertrackten Arrangements ergehen sich Sechssaiter und Saxophon in repetitiven Zwiegesprächen, ständig unterbrochen von bedrohlichen Pausen oder abrupten Tempi-Wechseln. Das ist spannend und womöglich nicht direkt auf den ersten Drücker leicht verdaut, steigert dadurch aber natürlich auch den replay value. Im nervös zuckenden ‘Скид’ erinnert die Kombination aus bratzenden Gitarren, Bass und Sax auch schon mal an eine entschärfte Version des Caspar Brötzmann Massakers, was selbst bei mäßig gelungener Umsetzung noch ein Kompliment wäre.
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Genug Energie hat das seit Jahren unter hoher Besetzungsfluktuation wirkende Ensemble daher ganz ohne Zweifel; an Ideen mangelt es auch nicht. Schon mit dem Vorgänger “Brom” von 2011 konnte man das selbstgefällig im Post-Rock schwelgende Musikermilieu Moskaus ordentlich vor den Kopf stoßen, seitdem wachsen das Projekt und der experimentelle Flügel der Szene gleichermaßen. “Бельмо” geriet zur konsequenten und gelungenen Fortsetzung, die vier Jahre und drei Alben später gar nochmal übertrumpft werden sollte. Unbedingt zu empfehlen.
Bewertung: 12/15 Punkten (KR 12, NS 12)
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