Von Federvieh und komponierenden Kaninchen
Es ist Ende September, im Festivalkalender ist das Freakshow Artrock Festival in Würzburg notiert. Es ist spürbar nicht mehr Sommer, aber der Herbst ist in Gedanken und Temperaturen noch fern, so ist das Jahr für Jahr. An Würzburgs Touristenmeile auf der Alten Mainbrücke tummeln sich noch sonnenhungrige und rebensaft-durstige Menschentrauben beim „Brückenschoppen“.
Immer am Main bzw. den Schienen entlang, es ist ein schöner Spaziergang, so geht’s zum Blauen Adler. Eigentlich eine Sportgaststätte in kultigem 70er-Jahre Dekor. Aber was für eine! Schon im fünften Jahr beherbergt sie das Freakshow Artrock Festival. Der Saal ist geräumig genug für 100 Sitzplätze, einen gemütlichen Sofabereich und viel Platz zum Tanzen für die Dancing Freaks.
Charly Heidenreich, der freudestrahlende Veranstalter der Festivalreihe, teilt sich Jahr für Jahr so manchen überseeischen Act mit dem südfranzösischen Rock In Opposition Festival, das jeweils Mitte September stattfindet. Spart Flugkosten.
Die Ausgabe 2018 schaut daher so aus:
Ein Nischenfest, keine Frage. Über die Jahre wurden die symphonischen Acts mit den eingängigen Melodien weniger, die Vertreter der sperrigeren Spielarten progressiver Musik mehr. Viele Blechbläser, wenige Tasten, nur punktuell Gesang. „Rock für Fortgeschrittene“. Doch keine Angst, dem Ernst der Szene setzen Bands wie CHATO!, Alex’s Hand oder Camembert bewusst Witz und Ironie entgegen. Wer Ohren hat zum hören, für den kommt der Schalk niemals zu kurz. Nix für Snobs, diese Veranstaltungsreihe, eher was für musikalisch aufgeschlossene Geister, die auch über sich selbst respektive ihren ureigenen Musikgeschmack schmunzeln können. Ausgelassenes Tanzen zu den wilderen Passagen hat Tradition im Saal – auch und gerade bei Stücken in, beispielsweise, 13/16 -Takt.
Schon in der Strabba (wie die Würzburger liebevoll zu ihrer Straßenbahn sagen, 125 Jahre gibt es sie schon, lese ich im Innenbereich) bekannte Gesichter. Mehr vertraute Gesichter plus ein paar Neue gibt’s vor und im Veranstaltungsort Blauen Adler. Eine halbe Stunde vor Konzertbeginn ist Chato Segerer, Bandleader seiner gleichnamigen Band CHATO!, die das Fest beginnen wird, noch gechillt beim Pläuschchen mit lange nicht gesehenen Freunden. Allzu gern setze ich mich dazu. Ich weiß ja: den Konzertbeginn kann ich in dieser Gesellschaft nicht verpassen.
Der Blaue Adler wirkt zunächst wie immer, trotzdem er seit diesem Sommer nur noch zu vereinzelten Veranstaltungen geöffnet hat. Die Menschen hinter der Theke: dieselben wie immer. Die Plakate vergangener Konzerte auf der Terrasse: wie immer. Doch, eine Neuerung fällt mir auf: da hängt ja die Original fette Henne der Bonner Republik als zentrales Bühnenbild. Als sie schon fett genug für diesen Ulknamen war, aber noch nicht ganz so voluminös wie die Version, die derzeit im Reichstagsgebäude Berlin hängt. Okay, diese hier hinterm Schlagzeug ist nicht ganz in Originalfarbe, sondern in blau. Wir sind ja im Blauen Adler. (Dass er auf meinen Bildern lila erscheint, ist dem Weißabgleich geschuldet. And I like it that way)
Die Plenarsitzung wird pünktlich eröffnet von Master of Ceremony Charly im unvermeidlichen Netzhemd. Wir erfahren die Nummerierung der Plätze und Charly nennt die einzelnen Festivaltags-Abgeordneten namentlich mit Sitzplatznummer. Hundert Sitzplätze gibt es, 99 wurden im Vorfeld verkauft, nur der Name mit der „Nummer 99 muss noch zahlen und kommt im Verlauf des Abends einfach zu mir“. Charmant, diese namentliche Begrüßung und unkomplizierte Handhabung des Finanziellen. Wer Tageskarten hat oder am Abend spontan teilnimmt, steht oder tanzt auf der freien Fläche dahinter, fläzt sich in die Sofas, nimmt einen Terrassenplatz oder hockt sich im Schneidersitz vor die erste Reihe. Man ist flexibel. Mein Platz Nummer 1 muss nicht immer von mir besetzt sein (Im Ernst! Aber jemand muss Nummer Eins ja haben. Der frühe Vogel fängt halt den Festivalkartenwurm), mache ich doch von verschiedenen Positionen aus Bilder und bei der tanzenden Meute ist es zu manchen Zeiten am schönsten.
Pünktlicher Beginn (schrieb ich schon)! Man hat ja nicht nur den angetrunkenen Bundesadler im Nacken, sondern auch die Sperrstunde, mit der es manch spaßloser Vogel in der Nachbarschaft dem Vernehmen nach sehr genau nimmt. (Welche Nachbarschaft überhaupt?! Fußballfeld, Pferdekoppel, herbstliche Bäume….hmm) Doch warum auch nicht pünktlich beginnen, CHATO! und seine Band scharren schon mit den Hufen. Sie bringen zwar kein neues Album, aber mit „Mysterious Reggae Thing“ gleich als Opener eine vertrackte Komposition, die Mastermind Chato Segerer bereits im Alter von 15 schrieb. Ein Ausnahmetalent an einem an Talenten nicht armen Veranstaltungsreihe. Doch bevor es zu ernst wird, muss das Musik-Klischee-Medley für Abkühlung sorgen, zu der Sängerin/Flötistin Janina Ruopp die benötigte Prise exaltierte Entrüstung beisteuert.
Alex’s Hand sind ein international zusammengesetztes Fusion-Septett mit Sitz in Berlin. Und auch hier gilt: Bandleader (gemeinsam mit Kellen Mills) Nic Barnes hält es nicht lang hinter seinem Schlagzeug, er kann auch crazy, lässt seine Kaffeetasse singen und seinen Vibraphonist Jacopo Bazzari die glockenhellen Töne zum gesprochenen Wahnsinn beisteuern.
Free Salamander Exhibit, die den Festivalfreitag abrunden, sind keine Unbekannten, sondern auferstanden aus der Asche, die der Phoenix namens Sleepytime Gorilla Museum hinterließ. Die Frage des Abends: „wird Carla Kihlstedt (eine von SGM‘s Hauptmusikerinnen) nun schmerzlich vermisst oder nicht?“, lässt sich auch in langen Diskussionsrunden im Plenarsaal des Sitzungsabends nicht eindeutig beantworten. Ich tendiere zu „ja“, wenn es auch eigentlich nicht verglichen werden sollte. Andere genießen die ungezügelte Wut der fünf in Fetzen gehüllten Waldschrate, deren düstere Märchen, deren Gebrüll, das ohne Carla eben keinen Contrapart in einer filigranen Geige oder betörendem Gesang findet. Kompromisslos wie Opeth vor ihrer Neuerfindung sind sie, aber mit schöneren Gewändern und dem selbstgebauten Perkussionsinstrument Tangularium, das Waldschrat Michael Mellender bedient. Ob die Wucht sich auf Tonträger pressen ließ, muss ich für mich im Nachgang des Konzertes erst herausfinden, das vorherrschende Gefühl ist Erschöpfung im Angesicht solcher Extase.
Ein paar Wortwechsel, dann: die vorletzte Straßenbahn fährt noch, Abfahrt in 1 min. Auch hier: freundliche, bekannte Gesichter, beseelt von Musik. Nach zwei Stationen: eine halbe Stunde Fußmarsch mit Wochenend-Gepäck, gut geeignet zum Kopf ausrauchen.
Der Samstag beginnt zeitig mit Hydropuls. Das Quartett aus Saarbrücken groovt vertrackt und hart, so hart, dass Gitarrist Johannes Schmitz sein Plektrum schreddert. Das Plenum ist schon zahlreich auf seinen Plätzen und wippt oder tanzt mit. Perfekter Tageseinstieg inklusive Schwätzchen mit Teilen der Band, bevor diese zum Zug muss.
Öz Ürügülü aus der Schweiz machen es richtig. Nein, nicht nur auf der Bühne, die sie im Anschluss an Hydropuls für sich haben. Vertrackter Jazz-Funk-Fusion, eine Spur Orient, dazu launige Ansagen. Sie haben es richtig gemacht, denn sie waren schon am Abend vorher zugegen, weil das Feiern unter diesen Festivalgängern gar so schön ist.
Worldservice Project sind nach 2016 zum zweiten Mal zu Gast und haben eine neue CD im Gepäck. Die ich just verpasse zu kaufen, da ich mich im Nachgang des Konzerts in kuriosen Gesprächen mit den jährlich wiederkehrenden überseeischen und israelischen Konzertgängern wiederfinde. Kategorie: Wenn sich herausstellt, dass man gemeinsame Bekannte hat. Die auch noch mittlerweile ein Festival in Galiläa auf die Beine gestellt haben. Von dem ich einen Schnipsel Information auf Spiegel Online gelesen hatte, nichts ahnend.
Der Klangkosmos von Worldservice Project geht gut ins Gehirn bzw. in die Beine und ist doch verzwickt. Das tanzende oder andächtig lauschende Publikum wird mitgerissen und das Plenum ist er Meinung, dass diese Darbietung der von vor zwei Jahren in Sachen Frische und Innovation in nichts nachsteht. Die Band um den klugen Mastermind Dave Morecroft hat bleibende Qualitäten. Als Menschen müssen sie Position beziehen. Müssen erklären, dass sie zwar Briten sind, aber oppositionell. Die diabolische Clownmaske Mr. Giggles darf auch diesmal nicht fehlen. So sind sie, unsere Zeiten. Der Plenarsaal versteht. Und schätzt die Positionierung.
Im Anschluss an dieses Konzert werden große, edle Instrumente hereingetragen. Acht beschwingte, schöne Menschen der Band Camembert aus Strasbourg laufen anschließend mitten durchs Publikum ein. Besetzung: Harfe, Xylophon, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Gitarre, Bass, Besenstiel (vielmehr: Gesang)
Charmant ist die sympathische Truppe, ergreifend und voller Witz. Humorlose Bands würden auch weder in Häschenkostümen musizieren noch sich nach einem Käse benennen. Sie erzählen uns mit den Mitteln der Musik Kurzgeschichten von zehn bis 20 Minuten Länge, und damit wir uns orientieren können, schiebt Xylophonistin Clarissa Imperatore in fein ziseliertem Deutsch charmante erklärende Geschichten vorneweg. Eine klasse Melange, ein würdiger Headliner.
Nach solchem Musikzauber verabschiedet ein sichtlich gerührter Veranstalter die Versammlung in die Nacht. Tröstlich zu wissen, dass er an der 2019er-Ausgabe bereits feilt. Ein letztes Politisieren an der Theke, Umarmungen, Verabschiedungen, rein in die Straßenbahn und auf Wiedersehen bis zum nächsten Jahr!
Text und Live-Fotos: Monika Baus
Surftipps zur Freakshow:
Homepage
Blauer Adler
Festivalbericht Freakshow Artrock Festival, 22.-23.09.17, Würzburg, Blauer Adler
Konzertbericht Freakshow in Concert: Guitar Festival II, 07.11.15, Würzburg, Immerhin
Festivalbericht Freakshow Artrock Festival 2015 – 45 Years of Zeuhl and Beyond, 25.-26.09.2015, Würzburg, Blauer Adler
Mehr Fotos vom Festival: ArtRockPics
Ein Kommentar
DANKE, MONIKA!!!!
wir sehen uns!!!
charly