1968! Was für eine klangvolle Jahreszahl!
2018 ist es exakt 50 Jahre später und dies wird zelebriert, keine Frage. Da passt es gut, dass in ebendiesem Jahr auf einem abgelegenen Burggelände in Osthessen ein Musikhappening ins Leben gerufen wurde, das, nach zwischenzeitlichen Unterbrechungen, heute wieder ein fester Bestandteil des Festivalkalenders von Musikfans und musikliebenden ’68ern im Geiste ist.
Seit einigen Jahren findet das Burg Herzberg Festival stets am letzten Juliwochenende mit konstant 11.000 verkauften Tickets statt. Damit zählt es wohltuend nicht zu den ganz großen Festivals im Land. Eine temporäre Kleinstadt mit kompletter Infrastruktur für Alt und Jung um vier offizielle Bühnen und das Lesezelt herum, inklusive liebevoll gestalteter Straßenschilder, entsteht dennoch:
Jede Stadt hat seit alters her ihre Chronisten. In vordigitalen Zeiten trugen sie Erinnerungswürdiges zusammen und verewigten es handschriftlich in großformatigen Schinken. „Stadtchronist“ des Festivals ist nun der Journalist Frank Schäfer.
Extreme Wettererlebnisse, Marotten ehemaliger Bühnenkünstler, absurde Bühnenshows, der zwischenzeitliche Umzug des Festivals nach Thüringen, all dies ist nun nachzulesen in seiner frisch veröffentlichten, herrlich kurzweiligen und hochwertig bebilderten Retrospektive.
Welche Bands und Künstler holt sich ein Festival, das sich als „Hippie Convention“ versteht, zum Geburtstagsfest? Peter Hammill natürlich, den ehrwürdigen Frontmann von Van Der Graaf Generator (Gründungsjahr 1967)! Ich kann nur wiedergeben, was mir berichtet wurde, denn diesen Festivalauftakt in der nahegelegenen Kirche Breitenbach, der schon am Tag vor Programmbeginn auf den Fetivalbühnen stattfand, konnte ich aus Termingründen nicht miterleben. Es muss packend, beeindruckend, außergewöhnlich gewesen sein!
Nun war es das schon fast mit den ganz großen Namen der Musik der Endsechziger/Siebziger. Woodstock-Veteran Miller Anderson gab sich im Vorabendprogramm die Ehre, ansonsten war einzig der Festivalabschluss am Sonntag mit Vertretern der “Alten Garde” bestückt: Unter dem Banner „Herzberg Blues Allstars“ versammelten sich unter anderem der immer noch stimmgewaltige „God of Hellfire“ Arthur Brown und die ehemaligen Colosseum-Mitglieder Chris Farlowe und Clem Clempson.
Das übrige Line-up der großen Bühne war für eine „Hippie Convention“ an drei von vier Abenden merkwürdig bestückt: mit Gitarrenpop von Kettcar, Rap von Käptn Peng & den Tentakeln von Delphi (immerhin Rap der intelligenten Sorte, wie der schalkhafte Bandname schon verrät, und mit lebendiger Band inklusive Kontrabass) sowie Selig im Abendprogramm. Das ist von Veranstalterseite ein durchaus gewollter Wandel, der 2018 vermutlich aber auch gepaart ist mit Pech beim Booking.
Mal ausgeholt: Auch der original alte Blues oder Folk kann dröge daher kommen, wenn eine altgediente Band eigentlich wenig Motivation oder nicht mehr die Spielfertigkeiten hat, aber die Anfragen zu Festivals nicht abreißen. „Alt“ ist noch kein Wert an sich. Und zumindest diese Diskussion wurde 2018 auf dem “Berch” meines Wissens nicht geführt, jedenfalls vernahm ich sie nicht. Die Diskussion 2018 verlief eher an der Schnittfläche zwischen Stilvielfalt und Beliebigkeit. Oder auch: wie viel Neuerung verträgt der musikkonservative Fan? Denn darauf läuft die Kritik eigentlich hinaus.
Bei genauerem Durchdenken wird das dann schnell schmerzhaft: dröge und musikalisch uninspiriert wie Kettcars Gitarren-Irgendwas ist, aber die Band hat politisch etwas zu sagen! Das fand ich erst im Nachgang bei der Recherche zu ebendiesem Artikel heraus. Vor Ort sehe und hörte ich mir zeitgleich lieber die musikalisch deutlich präsenteren und spannenderen Ape Shifter auf der Freak Stage an. Kettcars „Sommer ’89“ ist aber wirklich der wichtigste deutsche Song des vergangenen Jahres (politisch gesehen), das ist kein Programmheft-Gelaber! Und schon schließt sich ein Kreis, der 1968 seinen Anfang nahm.
Und daher die erstaunliche Erkenntnis: das Line-up liest sich bei Weitem nicht mehr so imposant noch vor wenigen Jahren und das wird es vielleicht nie mehr werden. Das ist nicht nur der musikalischen Öffnung geschuldet, auch der unerbittlichen Tatsache, dass der Musikerhimmel immer voller wird.
Doch das Fest dümpelt nicht, es verrät sich nicht, es verkauft sich nicht unter Wert oder an irgendwen oder -was. Es ist eine beständige und quirlig lebendige Institution der kreativen Lebensfreude und des Miteinanders. Für ein paar Tage im Hochsommer lässt sie die Illusion einer harmonischen, bunten und friedfertigen Welt, in der an jeder Ecke musiziert und philosophiert wird, wahr werden – ganz einfach dadurch, weil die, die dort sind, dies so praktizieren. Veteranen planen ihren Jahresurlaub in diese Tage und reisen mit Kind, Klampfe und Wohnmobil für eine ganze Woche an; neu hinzugekommene Besucher werden mit hinein gezogen in diese kunterbunte Welt der Lebenskünstler.
Zum unbeschwerten Dasein als homo festivalensis gesellt sich 2018 auch das Glück, von einem Wetterchaos wie im vorherigen Jahr verschont zu werden. Eine klug geänderte und im Vorfeld gut kommunzierte Einlassregelung auf das Festivalgelände sorgt dafür, dass keine übermäßigen Wartezeiten entstehen: Die den Bühnen näher gelegene Wiese (Freak City) wird einen vollen Tag später freigegeben als die große Wiese daneben (Neue Heimat). Dieses Prinzip hat auch schon bei viel größeren Festivals wie dem Wacken Open Air die Anreisezeitpunkte der Besucher deutlich entzerrt. Ziel erreicht, gerne beibehalten!
Eine Woche bei Sonne satt und Temperaturen jenseits der 30 Grad Celsius, das bedeutet: breitkrempigen Sonnenhut auf, Sonnenspray, Schatten suchen, viel trinken und vor allem: sich von der Festivalcrew oder von den liebenswerten Kindern auf dem Gelände mit Wasserpistolen beschießen zu lassen. Herrlich! Auf diese freiwillige Art durchnässt für die wenigen Augenblicke, die die Sonne für ihre unerbittliche Trocknung braucht, auf zur ersten Band auf der Hauptbühne:
Yossi Fine & Ben Aylon nennt sie das Programmheft, „Blue Desert“ nennen sie sich selbst, und gleichnamig ist auch ihr brandneues Debutalbum. Keyboarder und Soundtüftler (denn leider bedient niemand den Bass auf der Bühne) Lior Romano muss noch genannt werden. Ben Aylon darf guten Gewissens als Ausnahmeschlagzeuger durchgehen, seine Bühnenpräsenz eine Freude für Ohr und Auge, sein Equipment mit Schlagwerkzeug aus mehreren Kontinenten bestückt. Wüstensound bei Wüstentemperaturen.
Wie Kollege Zufall so spielt, werde ich vom Wüstenflair jäh weggerissen (Telefonanruf, never mind) und finde mich dadurch unvermittelt ans andere Ende des Geländes gespült. Der Höllenschuppen steht dort, eine offizielle Bühne, ja, doch komplett autonom und mit viel erzblut von einer eigenen Crew organisiert. Musikalische Ausrichtung: Psychedelic Rock/Space Rock, viel Zeit für spontane Jams. So dürfen die vor einigen Jahren auf dem Festival gegründeten Space Invaders nicht fehlen, die regelmäßig des Nachts ihre ausgedehnten Space Jams zelebrieren.
Dazwischen, in den Nachmittagsstunden, sind dort aber auch bezaubernde junge Bands zu hören, über die ich stolpere: beispielsweise Romie oder Yenga (letztere trippig wie Paatos [die sich just zu reformieren scheinen, Anm. d. Schlussred.]in ihren frühen Zeiten – Geheimtipp!)
Zur Freak Stage, der Bühne für experimentelle Töne ebenso wie für erdigen Retrorock wie diesen: Wucan! Nur Tage vorher waren sie für eine erkrankte Band eingesprungen und ihre energiegeladene Show wird zu Recht abgefeiert (Ich teile mir den Fotograben mit der schwer bestückten WDR-Filmcrew). Für besonders spacige Sounds hat man ein Theremin dabei, für das ein Festivalbesucher sein Seifenblasendöschen ausleihen darf.
Das ist aber noch nicht das außergewöhnlichste Instrument an diesem Abend, denn das dürfte die mongolische Pferdekopfgeige der Abschlussband des ersten Tages gewesen sein. Kennt ihr noch Hun Huur Tu, die Ober- und Untertonsänger aus der russischen autonomen Rebublik Tuva? Zwei ihrer Mitglieder sind als Yat-Kha in rockigem Gewand unterwegs, außerhalb Russlands begleitet von dem phantastisch vielseitigen und groovenden Bassisten Scipio. Unbedingte Anhörempfehlung!
Wie schon in den vergangenen Jahren buchte auch diesmal Charly Heidenreich, Mr. Freakshow Artrock Festival (unten im Bild rechts), drei der Bands auf der Freak Stage. Diese ziehen, selbst unter sengender Hitze oder in frühen Nachmittagsstunden, die Jünger der gewagten Töne und es Jazz-Rock magisch an. Charlys Stand mit ausgesuchten Tonträgern ist wie in den vergangenen Jahren gleich links neben der Bühne: Daneben immer der Stand der arf-Society (Zappanale), ausgesuchte Tonträger gibt es auch hier. Man plaudert in dieser Ecke munter aus dem Musikschatzkästchen und weiß so manche Anekdote aus 50 Jahren Rockgeschichte.
Stilsicher kostümiert und voller Improvisationsfreude spielt die internationale, in Belgien ansässige Band um Gabor „Humble“ Voros: Humble Grumble. Auch Alex’s Hand frönen mit viel Gebläse und Ironie dem AvantProg. Und die Vollblutmusiker, die ihren Namen Dark Rock Hypnotique pragmatisch in DRH abkürzt, liefern intelligente Grooves und eine exaltierte Bühnenshow. Die Musiker hängen auch außerhalb ihrer Spielzeit gern für ein Schwätzchen an Charlys Stand ab. Den Publikumspreis, so es ihn gäbe, nähmen wohl die norwegischen Symphonic Progger von Wobbler mit ins Land der Trolle, so mitreißend zelebrieren sie in der Nachmittagshitze ihre nordischen Klänge, die an Yes zu ihren besten Momenten erinnern.
Einen ganz besonderen Slot im Zeitplan haben Tusmørke, eine Folk Rock Band und personell mit Wobbler verwandt. „Dämmerung“, heißt ihr Bandname übersetzt. Am Abend der Mondfinsternis geht es kaum passender! Während ihres Sets schiebt sich unser Planet zwischen Sonne und Mond. Um den Blutmond zu sehen, müssen die Konzertbesucher nur ihre Augen gen Himmel richten, die Band behilft sich und spitzt hie und da über den Bühnenrand. Ansonsten flöten und orgeln sie den perfekten Soundtrack zum Ereignis. Die Schreiberin darf sich derweil auf ein Autodach setzen (danke an Peggy!), staunen und lauschen.
Fast einhundert Bands spielen allein auf offiziellen Bühnen, ganz zu schweigen von den spontanen Konzerten an nicht minder bekannten Ecken des Festes wie dem Coffee Shop, dem Weinstand oder dem Pizza Tank. Ein Bericht vom Fest muss also zwangsläufig unvollständig, zufällig bleiben. Aber der Pizza Tank muss noch gesondert erwähnt werden: Nicht unbedingt so dekoriert, wie es der Name vermuten lässt, bedient hier Tide Larsson, Bremens kultigster Szene-DJ und Konzertveranstalter, ganz vorzüglich und gekonnt die Turntables zum Festausklang. Und mit dem 40 Jahre alten Zeuhl-Klassiker „Dance Sacrée“ von Rahmann im Ohr schlüpfe ich später an diesem Abend selig ins Zelt und ein rundum sorgloses Festival neigt sich dem Ende.
Hier noch ein kleine rein optische Auswahl grundsätzlich aber erwähnenswerter Bands:
… der Rest befindet sich auf dieser Seite: www.artrockpics.com
Fazit: einerseits wäre ich 2019 gern wieder öfter vor der Main Stage zu Gange, gerade auch bei einem Abendprogramm im Geiste der ’68er. Andererseits bieten die kleineren Bühnen, die versteckten Ecken, so viel Spannendes, dass ich die große Bühne im Augenblick des Erlebens dann doch nicht vermisse. Gründe, dieses Festival zu besuchen, gibt es einfach im Quadrat!
Mehr zum Burg Herzberg:
Homepage
Festivalbericht 2017
Festivalbericht 2016