»Musik für Fortgeschrittene«
In aller Bescheidenheit adressierte das vom Veranstalter, besser: Gastgeber Karl-Heinz Heidenreich aka FreakCharly gewählte musikalische Motto des diesjährigen Freakshow Artrock Festivals die Fortgeschrittenen. Die solcherart gebauchpinselt dann auch zahlreicher als je zuvor erschienen, wie erfahrene Besucher der traditionsreichen Veranstaltung berichteten. Die Freakshow war ausverkauft! Die besagte Fortschrittlichkeit passte unter anderem ganz hervorragend zur ersten Band des rauschenden Wochenendes.
Die Redaktionslieblinge Colonel Petrov’s Good Judgement stießen im Blauen Adler auf ein offenes, neugieriges Publikum, das allerdings mehrheitlich noch nie von der JazzMetal-Spezial-Eingreiftruppe aus dem Rheinland gehört hatte. Das aber (mit einer fixen Ausnahme) allein schon vom Schlagzeug-Doppel von Nils Tegen und Rafael Calman geflashed war. Auch die exaltierte Show, die brennenden Soli (inzwischen ohne Verfremdung durch Effektgeräte) und der Ausdruckstanz von Saxophonist/Sänger Leonhard Huhn fesselte allgemein sehr schnell und erreichte multiple Höhepunkte, als er sich vor den Augen aller in ein Wesen zwischen Zebra und Tigerente verwandelte. Urban Camouflage für Jazzrocker! Übrigens klingt Leos Kanne durch Überblasen auch ohne Tretteile wie eine E-Gitarre mit Feedback.
Um uns da mal selbst zu zitieren: “traditioneller bis Free Jazz, Grunge, Blues, Rap, Melodieseligkeit und Rhythmik-Wahnsinn gingen eine heilvolle Vermählung ein.” Gitarrist Sebastian Müller schien die Traumhochzeit unauffällig zu dirigieren und Wunderbassist Reza Askari unaufhörlich nach vorne zu powern.
Setlist laut Selbstauskunft der sympathischen Truppe:
Everybody’s Gut One
Dark Star
Moral Machine
Untitled
Dick Laurant is dead
Hole of Love
Untitled
Next Time we might not be as lucky
Launch on Warning
~~~
Sappattack.
Aufmerksamen Lesern ist möglicherweise nicht entgangen, dass das Würzburger Publikum also mit gleich zwei Kompositionen verwöhnt wurde, die so kurz auf der Welt sind, dass es noch nicht zur Taufe kam. Beim ersten ‘Untitled’ erzeugt Leo ein klagendes Heulen wie bei “Ritter Rost und das Gespenst”. Obwohl uns der Auftritt insgesamt etwas gebremster vorkam, als die vor einem Jahr im Kölner Stadtgarten gelesene schwarze Jazz-Messe, wirkten zumindest Teile des Publikums zu diesem Zeitpunkt vom Gebotenen leicht überfordert.
Gerne wären die Judges nach ihrem Auftritt noch geblieben, doch leider ließ die Terminlage der in zahlreichen Projekten engagierten Musiker dies nicht zu.
Zeit, sich mit dem Publikum zu beschäftigen. Und mit dem Lokal, in das es uns verschlagen hat. Der Blaue Adler kann nicht verhehlen, dass er kein fieses, aber angesagtes Underground-Kellerloch ist. Und erst recht keine hochmoderne Multifunktionshalle mit der aktuellsten Veranstaltungstechnik. Man sieht der urgemütlichen Kaschemm’ halt an, dass sie vielmehr als Vereinslokal des Eisenbahn-Turn- und Sportvereins Würzburg gute Dienste leistet. Die Erkenntnis fällt umso leichter, wenn man entdeckt, dass der großzügig über die gesamte Gebäudebreite verlaufende Balkon sich auf den Sportplatz des ETSW öffnet. Das ist toll, denn so kann’s trotz Ausverkaufs-Status zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Mangel an Raum zum Zurückziehen für Gespräche vor frisch leuchtendem Grün und an der frischen Luft geben.
Le Silo aus Japan hinterließen anfangs beim Rezensenten Gefühle genau jener Überforderung, wie sie manche zuvor mit CPGJ erlebt haben mögen. Schrill wie und noch deutlich durchgeknallter als Unexpect scheint die Wirkung der Freakshow-Wiederholungstäter von dem lebhaften Kontrast zwischen dem Paradiesvogel Miyako (Gesang, Keyboards und dadaistische Publikumsansprachen) und ihren eher stoisch agierenden männlichen Mitstreitern an Bass und Schlagzeug bestimmt zu werden.
Vielteilige Stücke wie ‘Palo Palo’ (laut Miyako philippinisch für Schmetterling?) bieten bisweilen etwas jauligen, aber enthusiastischen Gesang über Jazz-Metal-Riffing und ordentlich Drive. Bei ‘Maysick’ (?) ist das stiftführende Schreibluder dann mit den Japanern warm geworden. Wie ihre Landsmänner Sigh aus Black Metal eine hohe Kunst gemacht haben, so tun dies Le Silo in ihren besten Momenten für AvantCrossOverProg mit einer Sängerin wie einem Amalgam aus Nina Hagen und Teri Gender Bender. Ein gutes Drum-Solo. Gefolgt von Gesang, der klingt wie ein entmannter Muezzin (während der Kastrierung). Dann so etwas wie eine pervertierte Fassung von Emerson Lake & Palmer, mit phantastisch treibenden Figuren in der linken Piano-Hand.
Nun ist Audience participation time: die genau wie etliche der Festivalbesucher einschließlich unserem Fotografen Lutz direkt vom R.I.O.-Festival angereisten Japaner haben nur noch genau eine CD im Merch-Bestand. Statt diese schnöde an den Meistbietenden zu versteigern, wird ein Dance Contest ausgerufen – live und zur Musik von Le Silo. Die Konkurrenz ist erbarmungslos, unter anderem Maitre de plaisir Charly wie auch Axel Hackner von Karakorum geben alles. Am Ende erhält aber doch die einzige Tänzerin den Zuschlag per Publikums-Voting – Ladies first, voll o.k.
Ein für das Socialising gefühlt fast zu kurzes Umbaupäuschen später schlägt nun die Stunde für Cheer-Accident. Das Quartett aus Chicago irritiert zunächst mit etwas quietschigen, trötigen Sounds plus Vocal-Samples (eine Litanei von Namen von Pop-Musikern) und hernach einbrechender Schackatack-Rhythmik. Und dann mit einem “Sprung in der Platte”-Effekt. Minutenlang – VIELE Minuten lang, spielen die Musiker die immer gleiche Phrase völlig unverändert. Das Publikum nimmt den Verfremdungseffekt mit bierseligem Humor. Und jubelt gehörig. Bis der “Tonabnehmer” weiterspringt – in einen fast atonalen Liedteil.
Hernach wechselt der Drummer (der auch herrlich im Falsett singen kann) eben mal so das Instrument mit der Keyboarderin. Mit den befremdlichen Wiederholungen haben es die Amis einfach. Das nächste Stück wird angesagt mit “eigentlich ist es ein Sakrileg, dass wir dieses Stück diesmal nur einmal spielen”. Tatsächlich aber wird genau diese Ansage nach wenigen Takten Musik wiederholt. Und noch einmal. Und noch einmal…
Auch schick: das Trommelsolo ganz zum Schluß, während die Kollegen schon abbauten.
1:15 Uhr. Die Stunde für PoiL hat geschlagen. Ihr “Speed Core Prog kann kaum noch gedacht oder verstanden werden” – nicht nur da ist Volkmar Mantei voll zuzustimmen. Er kann aber erwiesenermaßen getanzt werden, beispielsweise Charly wiegte sich zur Musik des Lyoner Trios durch die Menge bis ganz nach vorn, während Drummer Guilhem Meier sich teilweise nackicht machte. Beides faszinierende Phänomene, aber wohl ohne ursächlichen Zusammenhang. PoiL machen unglaublich rhythmische Musik mit gesprochem bis gerufenen Gesang aus drei Kehlen. Boris Cassone wechselt zwischen Gitarre und E-Bass so nonchalant wie unsereins zwischen Buntstiften.
Das inhaltliche Veranstaltungsmotto »We remember Thomkat« ehrt den auch von den Betreuern geschätzten und schmerzlich vermissten babyblauen Rezensenten, Radiomoderator und langjährigen Admin der [progrock-dt] Thomas Kohlruß, der am 11.02.2017 nach kurzer schwerer Krankheit verstarb. Daran erinnerte Charly in seiner kurzen, aber zu Herzen gehenden Anmoderation des zweiten Tages der Freakischen Spiele.
Wie schon am Freitag stellte die erste Samstag-Band alte Bekannte dar – DRH hatten wir bei einem Panzerballett-Konzert in Köln kennen und lieben gelernt. Ganz besonders war uns Alexandre Phalippons Bass-Spiel in Erinnerung geblieben: “Von coolem Bar-Jazz über Led Zeppelin hin zu Rage Against The Machine in ein paar Takten. Und das Ganze mit der nachdrücklichen Eleganz eines artgerecht bewegten Hattori Hanzō-Schwertes. Und einem aufregenden Bass..!”
Und da waren sie nun also endlich wieder auf einer Bühne vor unserer Nase. Auch diese Sympathen kommen aus Lyon, was Guido zu Überlegungen anstiftete, was die Lyoner Wasserwerke wohl bezüglich Genialitätsförderung veranstalten mögen.
Das Quartett hat mit “Thin Ice” einen flammenneuen Langspieler mit dabei, der offiziell allerdings erst 2018 erscheinen wird. Aus diesem geben sie das Titelstück, ‘Rift’ und ‘Fooled’ zu Gehör. Die Wirkung ihres Auftritts lässt sich vielleicht am besten so vermitteln: Im Gegensatz zu sonstigen Konzerten oder gar Festivals gab es bei der Freakshow keinen klassischen Merch-Stand. Am ersten Tag gab’s in der Hinsicht genau gar nichts. Am zweiten hatte der mit Musikalien handelnde Charly auf besagtem Balkon phantastisch bestückte, aber komplett unbewachte “Wühlkisten” aufgestellt. Das heißt: wer sich für etwas interessierte, musste erst Charly ausfindig machen, um den Preis zu erfahren und zu entrichten. Klappte aber großartig (Lutz: “Charly beklaut keiner”). Auch Merch der Bands wurde in der üblichen Form sonst kaum angeboten. DRH aber hatten immerhin was sie an CDs, T-Shirts und Postern dabei hatten, mit Preisen versehen links vor der Bühne hübsch drapiert aufgebaut. Erstes Lied. Nichts passiert. Zweites Lied. Mehrere Hörer erheben sich von ihren Plätzen, grooven links vor die Bühne, sichern sich die begehrten Trophäen und werfen den Preis dafür in ein dafür vorgesehenes offenes Behältnis. Der Strom der Käufer nahm mit jedem Song und jedem Solo von Gitarrist/Komponist Danilo Rodriguez, von Rémi Matrat (Saxophon/Komponist) und Josselin Hazard (Schlagzeug und gespielt böse Blicke) zu und am Ende sind die Franzosen ihre Bestände gut und verdient losgeworden!
Ein Wort zwischendurch zum Sound – die Freakshow trat nebenher elegant den Beweis an, dass es sehr wohl möglich ist: feinzeichnender, druckvoller Klang, sogar ohne Gehörschutz. Ein Traum, gerade im Vergleich zu den bei den hiernach erlebten Konzerten und Festivals gemachten Klangerfahrungen. Doch davon soll ein anderes Mal berichtet werden.
Und noch eine kleine Beobachtung – unsereiner hat selten einen so relativ hohen Anteil des Publikums (trotz vorhandener Bestuhlung!) so ausgelassen tanzen sehen. Zu Musik, bei der manche Musikwissenschaftler Schwierigkeiten haben dürften, den Takt mitzuklatschen. Den blauen Adler-Vogel schoss ein Festivalgast ab, der Gesichtsältester gewesen sein mag, zumindest sah er aus, als ob er seit dem originalen Woodstock auf den Beinen war. Der aber dennoch fast jeden Auftritt praktisch jeder Band durchgetanzt hat – und nicht nur mit Fuß- und Nasenwippen, sondern mit Verwindungen des ganzen Körpers. Respekt!
Exkursende. DRH waren fertig. Und glücklich. Aber doch auch ein wenig traurig, dass sie CPGJ verpasst hatten (heute wissen wir: die Königskinder kamen doch noch wenigstens virtuell zusammen und es sind inzwischen sogar gemeinsame Konzerte geplant). Sie blieben natürlich bis zum Ende des Festivalsamstages und damit länger als manch ein Schreiberling, siehe weiter unten.
Samstagnachmittag – zur besten Westernzeit ritten die Cowboys from Hell vom Fuß der blauen Schweizer Berge vor dem Blauen Adler vor. Das nach einem Pantera-Song bennante Trio (Saxophon, Bass, Schlagzeug) stieg gleich mit neuem Material ein, spielte aber später auch eine sehr gut erkennbare Version vom Song ‘Walk’ ihrer Namensspender, die man nach Phil Anselmos rechtsextremen Entgleisungen nur noch schwer bis gar nicht mehr anbeten mag. Auch ‘The Running Man’ ist wieder ein neues Stück, ‘Brechstang’ (?) ein weiteres.
Erstmals geriet jetzt eine Umbaupause deutlich länger – und dann gleich so lang, dass es leider etwas aus dem Festival-Flow riss und die zuvor von Euphorie überdeckte Müdigkeit spürbar werden ließ. Als es dann endlich weiterging, stellen sich die kanadischen Klassiker von Miriodor als vergleichsweise konventionellstes Set der beiden Tage heraus, dem sowohl die metallische Härte als auch die charmante Verrücktheit sämtlicher Vorbands abging. Wohlgemerkt nur im direkten Vergleich mit den anderen Freakshow-Bands. Auf einem normalen Festival hätte das Vorgeführte immer noch locker für eine Zwangseinweisung für die vier gereicht. Und die Chronistenpflicht gebietet den Hinweis: so äußerten sich fast alle, mit denen Guido und der Autor sprachen. Dass also Miriodor als relativ statisch und vielleicht sogar ein wenig matt erlebt wurden. Nur ein kleines Gallierdorf… Entschuldigung, eine von BBS-Chefmerkern besetzte Runde, die ihren Jury-Tisch auch während der Konzerte kaum verließen, sondern wichtig schauend im Schankraum oder auf dem Balkon verblieben, beharrten darauf, dass nun just das Quartett aus Quebec bzw. Montreal das Gelbeste vom gesamten Wochenend-Ei gewesen sei. Sei’s drum – tastes differ. Und auch die Muppet Show wird ja durch Waldorf und Statler erst so richtig zum Kult!
Zum guten Schluss ein wenig Mathematik: die oben bereits gepriesenen PoiL plus ni. gleich PinioL. Und ein Eingeständnis: Der Soundcheck der Franzosen schien nach Miriodor gar nicht mehr enden zu wollen, was letztlich dazu führte, dass es der Chronist nach den zwei (begeisternden) ersten Songs damit auch gut sein ließ. Diese reichten aber für die Feststellung, dass jetzt wirklich alles tanzte, was dazu körperlich noch so eben in der Lage war. Gewährsleute berichten überdies von einem “Starkstromgenerator” von Auftritt und von Musikern, die “mit der Realität abgeschlossen haben”.
Und noch eine finale Anekdote: die Idee für ein gemeinsames Bandprojekt kam den Musikern wohl, als sie einmal für ein Foto von Lutz Diehl gemeinsam und eng posieren sollten. Sagen Menschen, die dabei waren und es wissen müssen.
Fazit: In Fortführung der PNL-Tradition und zur schnelleren Orientierung für Schnellleser benoten wir ja – trotzdem das immer ein wenig problematisch bleibt – die von uns besprochenen Musikalien. Wenn wir das mit Festivals auch tun würden, gäbe es eine 14/15 für die Freakshow (15/15 wären es bei kürzeren Umbaupausen in der Samstagnacht gewesen). Denn viel besser geht es wohl einfach kaum noch: musikalische Auswahl, Ticketpreis, Organisation, Sound (!), Venue, Umfeld, Preise und Güte von Speis und Trank vor Ort sowie Nettigkeit des Publikums untereinander erhalten sämtlich Höchstbewertungen. Dazu dann noch die generellen Reize Würzburgs und das Ganze bei allerschönstem, spätsommerlichen Wetter. Auch Thomas wäre sicher wieder zufrieden gewesen…
PS: Leute, gebt Euch dieses Festival nächstes Jahr, ihr werdet es sehr, sehr wahrscheinlich nicht bereuen! Öz Ürügülü wurden bereits angekündigt. Und bucht frühzeitig – wie berichtet war es dieses Jahr ausgebucht.
Surftipps zum Festival
Homepage
Blauer Adler
Live-Fotos Colonel Petrov: Lutz Diehl, Progrockfoto.de
Alle anderen: Monika Baus, ArtRockPics
3 Kommentare
lieber klaus,
freut mich außerordentlich, so ein fundiertes pamphlet für das FREAKSHOW-ARTROCK-FESTIVAL von dir zu lesen!!!!. sachkundig, humorvoll und im dienst der guten sache!!!
cheers
charly
Gell! Sehe ich ebenso.
ich auch!!!!