Fools on the Hill
Das Burg Herzberg Festival bei Fulda mag Europas größtes Hippie-Musikfestival sein, doch 2017 stand zunächst unter gar keinem guten Stern: wenige Wochen vor Beginn sagte ein Headliner unter fadenscheinigen Argumenten ab (doch immerhin wurde rasch mit Jethro Tull mehr als adäquater Ersatz gefunden), dann hörten an den Haupt-Anreisetagen die Wolkenbrüche trotz anderslautender Prognosen einfach nicht auf! Einfahren, Parken und Zelten wurde auf weiten Teilen des Geländes unmöglich. Knietief verschlammten die Wiesen, auf denen, wenn nicht für eine Woche im Jahr eine Alternativstadt erblüht, gemütlich Pferde grasen.
Das Musikfestival mit entspanntem Hippie-Flair zieht jährlich mehr Menschen ganz unterschiedlicher Couleur an, so dass die Karten für 2017 bei Stückzahl 11.000 zum ersten Mal ausverkauft waren. In der Regel hat das bunte Völkchen eines gemeinsam: die friedliche Grundeinstellung und das Gewähren lassen des jeweils anderen. Alt-68er, die sich zu folkigen Tönen wiegen, sind ebenso vertreten wie die Space- und Psychedelic-Gemeinschaft um den Höllenschuppen, die Blues-Liebhaber, die Musik-Normalos, und sicher auch die Musik-Distanzierten, die hauptsächlich „der Atmosphäre wegen“ jährlich kommen.
Was „den Berch“ für Musikliebhaber progressiver, schräger Töne neben den ausgewiesenen Prog-Festivals so interessant macht? Die bunte Auswahl an Musik beinah rund um die Uhr auf vier offiziellen Bühnen und darüber hinaus am Wegesrand. Die Händler seltener CDs und LPs, mit denen man ein Liebhaberschwätzchen führen kann. Der Stand der Arf-Society, an dem in den Livemusik-Pausen Mitschnitte vergangener Zappanale-Gigs gezeigt werden. Und nebenan Freakshow-Urgestein Charly Heidenreich, der alljährlich drei Bands der Stilrichtungen Jazz/Avantgarde auf der zweitgrößten (und Kenner sagen: schönsten) Bühne bucht.
Weil das Wetter stärker ist als ich, stelle ich Donnerstagvormittag meine alte Karre auf einem Campingplatz im nahegelegenen Breitenbach ab und lasse mich ganz entspannt von einem Shuttleservice zum Fußgängereingang bringen. Auf diese Weise spare ich mir einige Unsicherheiten (dazu unten mehr) und schließlich habe ich ja Fototermine an diesem ersten Musiktag des Festes, die ich nicht in einer Warteschlange stehend verpassen will!
So kann ich bereits mit der ersten Band auf der Freak Stage das entspannte Herzberg-Flair genießen: dem sympathischen Quartett von Still in the Woods, die entspannten Jazz-Pop präsentieren, zu dem sich echte „Mud People“ unter das Publikum mischen.
Das Vokalduo Simon und Jan erklären dem Publikum im Anschluss ihre garantiert nicht politisch korrekte Sicht der Welt auf extrem unterhaltsame Weise. Herrlich.
Die Main Stage dagegen kann erst verspätet freigegeben werden, denn dort, am tiefer gelegenen Ende des Geländes, sammelt sich gummistiefelhoch der Neuschlamm. Selbst zum Donnerstags-Headliner, der Kultband Gong, bleibt das Feld ungewohnt leer. Was bei den schmaleren Nebenbühnen nicht ins Auge fällt, hier wird es sichtbar: Tausende Besucher stehen noch vor dem zwischenzeitlich verschlossenen Fahrzeugeingang oder machen sich gerade erst zu Fuß auf den Weg zu den Konzerten. Oder sollte Gong anno 2017 nicht mehr die Anziehungskraft früherer Tage haben? Nein, zumindest Neugierde hätte dann die Wiese gefüllt! Denn was ist Gong 2017 eigentlich? Mastermind Daevid Allen starb 2015, Gilli Smyth vergangenes Jahr. Doch wo andere Bands sich in Nachfolgestreitereien verlieren und unter teilweise kuriosen Ersastznamen touren, wurde hier der Stab wohltuend offiziell weiter gegeben und das macht Daevid Allen noch einmal ehrenwerter. Nun mischen also Kavus Torabi (von den hochverehrten Cardiacs und von Guapo), Bassist Dave Sturt und weitere relativ neue Mitstreiter die psychedelische Mixtur. Ihr Album aus dem vergangenen Herbst, „Rejoice! I’m Dead“, rockt erstaunlich. Um dann doch in vertraute schwebende Gong-Landschaften abzudriften. Mehrstimmiger Gesang hält Einzug auf dem neuen Material. In den Ur-Formationen waren die Stimmen von Daevid und Gilli mehr wie weitere entrückte Instrumente Teil des Klangkosmos. Ja, Gong 2017 ist auch in dieser Formation stark und knüpft an das Erbe der Alten leicht verändert aber würdig an.
Weil es noch nicht genügend Wolkenbrüche gab, geht im Anschluss ein weiteres lokales Unwetter nieder. Das schmälert den Genuss der außergewöhnlichen Musik des Pulsar Trios auf der Freak Stage doch erheblich, die in der Besetzung Sitar, Piano, Schlagzeug dem Wetter trotzen. Im Lesezelt kann dagegen Jörg Wulf „Like a Sickness“, seinen sehr biographischen Streifen über die Zappanale, trocken fast wie im heimeligen Wohnzimmer vorführen.
Der anschließenden Musiktrip in improvisierte Spären, den die Space Invaders auf der ein oder anderen Bühne beinahe jährlich zelebrieren, fällt für mich diesmal den Wetterbedingungen zum Opfer. Call me Weichei.
Wie wundersam ist es da, am folgenden Freitagmorgen mit warmen Sonnenstrahlen geweckt zu werden! Na dann kann ja sogar Deutschlands berühmtester Straßenmusiker Klaus der Geiger sein am Vortag ins Wasser gefallenes Konzert auf der Hauptbühne nachholen und im knöcheltiefen Schlamm tanzt ein Pärchen Walzer dazu. Unbezahlbar schöner Tagesbeginn!
Hernach im selben Schlamm: der junge Münchner Musiker Jesper Munk, der gekonnt den Blues a la Jonny Lang kombiniert mit Coldplay, aber mit Wumms.
Noch viel viel mehr Wumms gibt es anschließend auf der Freak Stage mit dem JazzCore-Quintett Spinifex. Was die in den Niederlanden ansässigen Musiker an Trompete, Saxophon, Bass und Gitarre im Wechsel an druckvollen Soli heraushauen, um sich doch wieder zu finden und dem Jazz-Fusion zu frönen, einfach gekonnt! Und punktgenau zum Konzert dieser ersten Freakshow-Band des Wochenendes fährt auch Charlys Transporter ein, der tags zuvor noch, wie so viele andere Fahrzeuge, nicht aufs Gelände konnte. Pünktlich zu „seiner“ ersten Band.
Und rechtzeitig für das Konzert von Mike Keneally im Anschluss daran. Trotz seiner meterlangen Discographie, die Kollaborationen mit Frank Zappa, Dweezil Zappa oder Steve Vai beinhaltet, hat er es selbst nie in die erste Reihe der Gitarrenheroen geschafft. Zu verquer die Achterbahnfahrt der Stile? Dabei entsteht gerade bei ihm nie der Eindruck bloßer Phrasendrescherei, bloßen Show-offs, dem moderne Progressive Metal Acts gerne verfallen. Ganz im Gegenteil fahren seine queren Parts stets in einen Bahnhof vertrauter, grooviger Rhythmen ein. Oder er intoniert gleich eine sehr eigenwillige Interpretation des Beatles-Klassikers „She’s Leaving Home“. Oder es marschiert eine Kuh durch die Bühne. Alles in allem ein musikalicher Höhepunkt des Festes, was Mike Keneally mit dem vornamenlosen Schlagzeuger Schroeder und dem finnischen Bassisten Jaan Wessman (die sich in dieser Formation genau genommen Mike Keneally Report nennt) uns da auftischt!
Am sonnigen Samstag stehen die schweizer Freakshow-Veteranen Öz Ürügülü an, und der Name ist Programm: Voller Umlaute bzw. Umwege sind ihre fernöstlich anmutenden Klänge, die ihre Wurzeln doch im sehr westlichen Jazz und Schwermetall haben. Die sechs sympathischen Klangzauberer lassen sich zwei Zeltübernachtungen und einen gemeinsamen Besuch des Jethro Tull-Konzerts später am Abend nicht nehmen. In mein krassestes Spaßfoto bei dieser Gelegenheit ist nur leider ein Unbeteiligter hineingelaufen und dann war der Moment flöten. Wie das Leben halt spielt.
Mache ich doch gleich bei Jethro Tull weiter. Genau genommen: Jethro Tull’s Ian Anderson – schrieb ich oben etwas von „kuriosen Ersatznamen“?! Heißt doch im Klartext: das ist nicht die alteingespielte Band, das ist eine neue Truppe oder eine Truppe nur für bestimmte Anlässe, aber mit besagtem Frontmann. Muss nicht zum Nachteil gereichen, das kann frisch und auf den Punkt gebracht klingen wie bei Mike Keneally am Vortag. Kann aber. Bei aller Freude darüber, wie quicklebendig ein sichtlich gut gelaunter Ian Anderson auf der Bühne, in seinem Element, irrwischt, singt, flötet, mit seinen Mitmusikern interagiert – gerade vom lahmen Schlagzeug her scheinen die alten Klassiker wie künstlich im Zaum gehalten zu werden. Dies kann sogar Absicht gewesen sein. Kann Ian Anderson so doch die gesungenen Passagen entspannter angehen. Doch in meinen Ohren wirkt das eher wie „nicht Fisch nicht Fleisch“. Nicht folkloristisch umarrangiert genug, um als Neuinterpretationen durchzugehen, aber auch nicht mehr mit der rotzigen, hardrockigen Unbedingtheit der Originale. Unterm Strich trotzdem Meckern auf hohem Niveau! Immerhin habe ich bei feiner Gesellschaft im Abstand von 20 Jahren zwei Mal die 8-Minuten-Version ihres Meisterstücks „Thick as a Brick“ live im Sonnenuntergang hören dürfen!
Zur mitternächtlichen Stunde gibt es die legitimen Nachfolger von Geschichtenerzählern wie seinerzeit Jethro Tull auf der hippiesk dekorierten Mental Stage: Karakorum ist seit neuestem nicht nur ein Gebirge in Zentralasien, sondern auch der Name einer asienaffinen jungen Band aus dem Niederbayrischen. Ihre Musik: ausgetüftelte Kompositionen mit mehreren Parts, mehrstimmiger Gesang von Gentle Giant abgeguckt, fette Keyboardteppiche. Die kleine Mental Stage wirkt jetzt schon fast zu klein für dieses Quintett. Wir werden von ihnen hören.
Sonntag, wieder Sonne. Die Gummistiefel bekommen nach dem obligatorischen Gang zur Hauptbühne, wo es weiterhin knöcheltief baazt, endlich Pause. Dort zur Mittagszeit stelle ich mal wieder fest, dass ich die sympathischsten Bilder manchmal von Acts schieße, die ich gar nicht auf der Rechnung habe. Yvonne Mwale aus Sambia mit ihrem Quintett ist so ein Fall. Was für eine schöne Gesamtdarbietung aus Gesang, Rhythmus und Tanz.
BaBa ZuLa aus Istanbul machen im Anschluss in ihren Ansagen wie mittels ihrer fröhlichen, verträumten, psychedelischen Musik klar, wie wichtig Musik als Kitt zwischen und innerhalb verschiedener Kulturen ist. Unsere Wünsche, Träume und Bedürfnisse ähneln sich doch mehr als dass sie sich unterscheiden.
Colonel Petrov’s Good Judgement entert anschließend die Freak Stage. Wer? Der Oberstleutnant, der 1983 sein Gehirn eingeschaltet ließ und uns so alle vor einem Nuklearschlag bewahrte? Intelligente Menschen müssen das sein, die ihre Band so nennen und dann kompromisslosen JazzCore mit crimsonesken Anleihen machen. Den geringen Anteil an Eingängigkeit gleicht das Quintett durch eine spannende Bühnenshow des Frontmanns und Saxophonisten Leonhard Huhn locker aus. Nächsten Monat ist diese Kölner Band mit den zwei Schlagzeugern erneut zu bestaunen in Charlys Freakshow Artrock Festival-Reihe.
Und dann, kurz vor Ende des Fests, steht Patti auf der Bühne. Patti Smith with Tony Shanahan, Jackson Smith & Seb Rochford, so die offizielle Ankündigung. Sie ist das zweite Mal nach 2014, weil sie es auf dem Festival damals nach eigenen Angaben so liebte. Damals durften ausschließlich Kinder sie interviewen bzw. mit ihr reden, und sie genoss es wohl sehr. Anno 2017 steht sie auf der Bühne, singt in ihrer unverwechselbar rauen Art, winkt, erzählt, liest vor, und hat das Publikum in ihrem Bann. Ich verstehe, dass sie ausgewählt wurde, um Bob Dylans Literaturnobelpreis entgegenzunehmen. Nun kenne ich ihre Songs nur teilweise und diffus, außer „Horses“ besitze ich keines ihrer Alben. Doch macht das auch nichts angesichts einer solchen Bühnenerscheinung. Und die schwarz/weiß Bilder vom Seitenrand des Photograbens (so die Regelung) sprechen für sich.
Noch ein Fazit zum Wetter: weil das Gelände kaum befahrbar war, die Eingänge für Fußgänger aber immer offen, entstand im angrenzenden Wald und am Landstraßenrand ein Provisorium aus Zelten und parkenden Autos, in denen auch übernachtet wurde. Zu allen Tages- und Nachtzeiten marschierten Menschen meilenweit zu und von diesem kurzerhand „Freak Wood“ getauften Gebiet. Man richtet sich in der neuen Situation ein, als wäre es nicht aus der Not heraus entstanden.
Auf dem Höhepunkt des Einlass-Heckmecks sagte Wolfgang Wortmann, einer der Veranstalter, die schönen Worte für die mögliche Zukunft des Festes: „Weniger Autos, mehr Shuttlebusse, mehr Zelte“. Meinen fahrbaren Untersatz benötige ich vier Tage lang nicht, er muss nicht bei mir stehen. Wenn es in Zukunft möglich sein könnte, Wertsachen und Instrumente etc. an einem sicheren und wettergeschützten Ort zu lagern, könnte man die Zahl der Autos auf dem Fest sicher deutlich dezimieren. Damit könnte man die Zahl der Leute, die ihr Zelt bühnennah in der beliebten Freak City aufschlagen können, ordentlich nach oben drehen. Dann können wir 2018 sagen, was in der Retrospektive jetzt schon von 2017 zu hören ist: Schlamm? Egal! Machen wir das Beste draus! Regen gibt es schließlich in den hessischen Mittelgebirgen genauso zuverlässig wie den warmen Wind, der ihn wieder trocknet.
Weil es unmöglich ist, an allen spannenden Orten gleichzeitig zu sein oder auch nur über alles zu berichten, seien hier ohne Worte löblich erwähnt: Bukahara, Hexvessel, Coogan’s Bluff, Tinariwen (war leider zeitgleich mit Spinifex), die Poetry Slammer und Lars Ruppel, der viele Bands charmant im Peotry Slam-Stil ansagt, die Höllenschuppen-Bands, zu denen ich dieses Jahr beschämenderweise nie hochgestapft bin (es gab immer irgendwo näher an meinem Epizentrum, der Freak Stage, auch etwas Interessantes), Lesungen, Bands …und die Mitglieder der Arf-Society (Zappanale Crew), die sich zum Konzert von Bluesgitarristin Joanne Shaw Taylor schon mal im Schlamm vor der Main Stage aufreihen…
Und wer zum Geier war nochmal Kansas?
Text und Live-Fotos: Monika Baus, artrockpics.com