(59:06, CD, Unit/CeDe, 2016)
Man stelle sich vor, ein äußerst distinguierter Zeitgenosse namens Johann Wolfgang von Zitzen-Witz, wird bald seinen 21. Geburtstag begehen und wünscht sich – zu ihm passend – ein ganz besonderes Geschenk. Er liebt Musik, so lässt er nonchalant verlauten. Aha, das ist doch schon einmal ein guter Tipp. Aber er mag keinerlei Volks-Musik, worunter er z.B. Hinterwäldler-Musik (Country bzw. volksdümmlicher Schlager), Pop, Rock, Heavy Metal, Rap oder Funk versteht, ebenso wenig wie alle Arten von Tanzmusik wie Tango, Samba oder Walzer. Schließlich ist bekanntermaßen Vollkornbrot für das Volk. In seiner Familie wird ausschließlich französisch gesprochen, englisch ist als Sprache der Lakaien dem Gesinde vorbehalten. Johann Wolfgang wurde nach eigener Aussage bereits an der Mutterbrust zu den Klängen klassischer Musik gesäugt. Auf dem Familiensitz derer von Zitzen-Witz werden ausschließlich die großen Altmeister der Barockmusik gespielt, Beethoven und Konsorten gelten schon als Rebellen und Jazz oder gar Radiomusik werden konsequent desavouiert. Sein Onkel Donald, den er häufig ohne Wissen seiner Familie besucht, ist leidenschaftlicher Jazz-Fan. Diese Besuche müssen in aller Heimlichkeit stattfinden, da sein Onkel aufgrund seiner musikalischen Orientierung und seiner basisdemokratischen Gesinnung aus der Familie ausgeschlossen wurde. Johann Wolfgang lernte durch seinen Onkel bereits in jungen Jahren den Jazz kennen und lieben, kann aber nicht zu dieser Liebe stehen, da er Angst hat, ebenfalls verstoßen zu werden und die generöse elterliche Alimentierung zu verlieren. Er müsste in diesem Fall auf eigenen Füßen stehen und arbeiten – eine schreckliche Vorstellung. Also mag er offiziell Barockmusik, wobei ihm deren zuckerwattiger Liebreiz regelmäßig bei Familienfesten Brechreiz beschert.
Auf einer der vielen Toiletten des elterlichen Anwesens hört er deshalb bei Familienfesten – quasi als Medizin – per Kopfhörer Jazz, am liebsten in Big Band-Besetzung. Gerne mag er auch aufgrund der ternären Rhythmik Hip Hop und Rhythm ‘n‘ Blues sowie zeitgenössische klassische Musik, elektronische Einsprengsel und glasklare, melodische Frauenstimmen. Außerdem hat er eine besondere Vorliebe für Kompositionen, die einen Wechsel aus arrangierten und improvisierten Teilen sowie eine reichhaltige Instrumentierung bieten, wobei zu seinen Lieblings-Instrumenten Cello, Harfe, Vibraphon, Trompete, E-Gitarre und Schlagzeug gehören. Ach ja, und er verehrt Frank Zappa; das ist sein musikalischer Held. Kompositorische Totalausfälle wie ‚Bobby Brown‘ oder ‚Dancing Fool‘ fallen nicht weiter ins Gewicht, bei Franks Genie macht ihm das nicht allzu viel aus. Allerdings nimmt er Herrn Zappa übel, dass dieser besonders in den Jahren vor seinem tragischen Krebstod immer häufiger Verschwörungstheorien in den Medien verbreitet hatte. So etwas zeugt nach seiner Ansicht nicht gerade von Intelligenz, wo doch ein jeder, wenn er nur guten Willens ist, sehen kann, wie sehr sich die Eliten für das Wohl der Bürger in den jeweiligen Ländern aufopfern. „Wo kommen wir denn hin, wenn die Leute nicht mehr alles glauben, was man ihnen erzählt und statt dessen selbst prüfen wollen, was richtig und was falsch ist“, ereifert sich Johann Wolfgang immer wieder in Diskussionen mit Menschen, die sich erdreisten, eine Position zu vertreten, die sich von der seinigen unterscheidet. Er will unbedingt möglichst bald auch zu dem elitären Zirkel gehören und die Menschheit als Chefredakteur einer der familieneigenen Gazetten über das segensreiche Tun der Mächtigen aufklären, damit solche ketzerischen Gedanken bezüglich einer Veränderung des bestehenden Systems endgültig der Vergangenheit angehören.
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Auch heute, auf seiner Geburtstagsfeier erklingt liebliche, von einem Kammerorchester zu seinen Ehren dargebotene Barockmusik und wieder einmal sitzt er mit seiner Schwingungs-Medizin auf einer Familien-Toilette. Oh là là, was ist das denn für eine Musik auf der gebrannten CD, die er gestern Abend bei seinem Onkel ohne dessen Wissen mitgenommen hatte? Sacrebleu, das ist ja exquisit; diese Aufnahmen entsprechen ganz genau seinem musikalischen Beuteschema. Er muss unbedingt wissen, wer diese genialen Stücke komponierte. Schnell stoppt er seinen CD-Player, um lesen zu können, wie die Beschriftung auf der CD-R lautet. Da steht… nichts. Merde! Johann Wolfgang hätte wirklich zu gerne gewusst, welche Combo solch hervorragende Musik macht, die ihn manchmal ein wenig an das Fugato Orchestra oder eine in Milch schwimmende Version von Klaus Königs Kompositionen für großes Ensemble erinnert. Genervt geht er zurück in den Festsaal und lässt die Musik, die zahllosen Gratulanten und den ganzen anderen Kram über sich ergehen, bevor er sich, nachdem sich der letzte Gast verabschiedet hat, aus dem Haupthaus schleicht. Ziel: Die Bude seines Onkels, der ihn bereits erwartet. Schnell packt er dessen Geschenk aus; es ist, wer hätte das gedacht, eine CD, bei der ihm schon das Cover sehr gut gefällt. Ab mit dem Rundling in die Anlage und aufgedreht. Tiens! Das ist ja die Musik, die er heute auf Toilette hörte. Während er noch über diesen Zufall nachdenkt, fragt ihn sein Onkel Donald, ob er vielleicht weiß, wo die CD-R sein könnte, die gestern auf dem Schreibtisch lag. Donald brannte sich nämlich die CD „Urban Voyage“, weil er sie selbst so klasse findet und nur wenig Geld zur Verfügung hat. A coup sur! Er berichtet dem Onkel von seiner gestrigen Neugier und seinem heutigen WCD-Erlebnis. Beide lachen; Johann Wolfgang blättert im CD-Booklet und liest sich interessiert die Besetzung dieser Band durch: Mara Minjoli (Gesang), Natanael Ramos Garcia (Trompete), Itai Weissman (Tenor-Saxophon), Efe Erdem (Posaune), Fernando Sanchez (Bariton-Saxophon), Eran Har Even (Gitarre), Loran Witteveen (Piano), Jerome Klein (Synthesizer und Percussion), Pit Dahm (Vibraphon und Percussion), Jeroen Batterink (Schlagzeug) und Pol Belardi (Bass). Auf einigen Stücken spielen folgende Gastmusiker mit: Bela Horvat und Sara Kalinowska (Violine), Tom Moonen und Virginia Wolleswinkel (Viola), Veit Steinmann (Cello) sowie Mirjam Rietberg (Harfe). Johann Wolfgang und Donald sind derart begeistert von diesem Album, dass sie zusammen an Pol Belardi eine Dankes-E-Mail schreiben und gleich nachfragen, wann mit der nächsten Veröffentlichung zu rechnen ist.
Bewertung: 14/15 Punkten (FB 14, KR 12)
Surftipps zu Pol Belardi‘s Urban Voyage:
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Unit Records
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