In Ulft und um Ulft herum
Die Kollegen vom iO Pages-Magazin hatten gemeinsam mit Booking-As Rob Palmen (u.a. Glassville Music) der diesjährigen Ausgabe ihres Festivals ein magisch anziehendes Line-up verpasst. So unwiderstehlich, da konnte nicht einmal der Umstand schrecken, dass selbst niederländische Verwandte und Freunde noch nie in diesem Ulft oder gar im Veranstaltungsort Dru Cultuurfabriek gewesen waren.
Doch auf unserer kurz entschlossen angesetzten Tour stellte sich schnell heraus: Ulft in der Provinz Gelderland ist für Rheinländer noch recht gut erreichbar. Das in Terborg genommene Quartier (da in Ulft – und drum herum – schon lange alles ausgebucht war) entpuppte sich als so antiquiert wie attraktiv. Prächtiges Wetter begünstigte den Fußmarsch durch reizvolle Landschaft zum Zielort, der allein schon einen Besuch wert gewesen wäre. Denn die Anlagen eines ehemaligen Eisenwerks sind heute nachvollziehbar als Baudenkmäler geschützt und dennoch in vielfältiger Benutzung, insbesondere die uns primär interessierende “SSP-hal”.
Marcel Singor
In deren größerem Podium die Band des niederländischen Gitarristen und Sängers Marcel Singor das Festival eröffnete. Seine bis auf ihn selbst und den Saxophonisten Jan Kooper auffallend junge Formation stieg mit dem funkigen Pop-Rock von ‘Late Contender’ ein, gefolgt von ‘Did That Really Just Happen?’. Was nun tatsächlich passierte, war ‘The Last Ride’ mit schönen Sax- und Gitarren-Soli. Aber natürlich noch nicht wirklich das Finale. Schließlich fehlte mit ‘Futureproof’ ja noch der Titelsong vom aktuellen Album des Meisters.
A Liquid Landscape
Etwas Verwirrung entstand nun dadurch, dass fast alle Konzerte per Vorankündigung und aktuellem Aushang für das große Podium avisiert waren, aber teilweise eben doch im kleineren Saal stattfanden, der durch seine wie in einem Amphitheater oder Kino stark abfallenden Sitzreihen großen Komfort und einen auffallend guten Sound bietet. Für das träumerisch-schöne Set des Quartetts aus Groningen definitiv die richtige Wahl – auch wenn es nun natürlich gnadenlos voll wurde und durch verspätete Platzsuchende immer wieder zu Störungen kam. Material wie ‘A Brief Moment Of Future’ und ‘Drifting Star’ schlug die Anwesenden dennoch komplett in den Bann, woran der so intensive wie sanfte Vortrag des barfüßigen Sängers Fons Herder besonders hohen Anteil hatte. Auch Marjana von Iamthemorning folgte auf der Treppe hockend fasziniert dem Geschehen, das mit der mächtigen Steigerung von ‘Secret Isle’ seinen würdigen, wenn auch als zu früh empfundenen Abschluss fand.
Lesoir
Die Niederländer lockten das Proggervolk zurück in den großen Saal, wo sie mit einem rockigeren, bisweilen an alte The Gathering erinnende Programm und gleich zwei besonders attraktiven Musikerinnen belohnt wurden. Sexistisch? Mag sein, aber auf Prog-Festivals doch so relativ selten, dass es erwähnt werden sollte. Das Querflötenspiel der stimmgewaltigen Sängerin Maartje Meessen erweitert die Klangfarben sehr lebhaft, zum Beispiel beim Instrumental ‘Luctor et Emergo’ vom gleichnamigen Album. ‘Flawless Chemistry’ beendete einen weiteren fehlerfreien, ja begeisternden Auftritt.
Anneke van Giersbergen
Das folgende Auftreten der Grande Dame des niederländischen Prog verdankte die Gemeinde dem Umstand, dass diese von iO Pages noch 2015 für “A Gentle Storm”, ihre Kooperation mit Arjen A. Lucassen, einen Award verliehen bekommen hatte – diesen aber aus Zeitgründen noch nicht hatte in Empfang nehmen können. Dies wurde nun in aller Form nachgeholt. Aus dem hinreißenden Cameo-Auftritt, mit dem sie sich bedankte, ragten ausnahmsweise die Cover-Versionen wie ‘Wish You Were Here’, ‘Cloudbusting’ und ‘Drowning Man’ besonders hervor.
Anekdoten
Die Schweden trockneten etwaige durch Annekes Wirken hinterlassene Rührungstränen mit Anna Sofi Dahlbergs mächtigen Mellotron-Fanfaren und dem schärfsten Gitarrensound des Festivals – Marty Willson-Piper Ex-The Church; u.a. Fender Jazzmaster. Ihm zu Füßen lag übrigens nicht nur die Setlist, sondern auch Spickzettel mit Akkord- und Songstrukturen. Während ‘Get Out Alive’ die Festivalgänger majestätisch wieder wachschüttelte, begeisterten an ‘From Within’ der treibende Rhythmus von Drummer Peter Nordins und Sänger/Bassist Jan Erik Liljeström (Rickenbacker) sowie die sanfte, aber unaufhaltsame Weiterentwicklung des Stückes. ‘Shooting Star’ wurde von einem herrlich fetten Unisono-Solo von Marty mit Nicklas Barker (Gibson SG) gekrönt. ‘Gravity’ macht den Sack mit einem bewusst simplen, aber ungemein ausdrucksvollen Marty-Solo triumphierend zu – als würden alte Genesis mit Motorpsycho jammen!
Tim Bowness & Friends und Iamthemorning
Dieser exklusive Konzertteil brachte Tim Bowness einerseits mit No-Man-Kollegen und andererseits mit Marjana Semkina und Gleb Kolyadin von Iamthemorning zusammen. Letzteres eine nicht unbedingt naheliegende, aber reizvolle Paarung.
Die Fans feierten Material wie ‘Only Rain’, ‘Time Travel In Texas’, das sterbensschöne ‘Wherever There Is Light’ (No-Man) oder ‘The Warm-Up Man Forever’ (“Abandoned Dance Hall Dreams”) so, wie man derartig langsam sich entfaltende Kunst eben feiern kann.
Für ‘Days Turn Into Years’ “schlich” sich Marjana tanzend an das Geschehen an, verharrte dann in theatralischen Gesten wie betend (während Tim zu versuchen schien, höfliche Miene zum Spiel behalten), was schließlich in einer epischen Version von ‘Beautiful Songs You Should Know’ gipfelte.
Großartige Songs, phantastische Musiker – u.a. Stephen Bennett (Keyboards, No-Man), Pete “Dexter” Morgan (Bass), Michael Bearpark (Gitarre, Loops; No-Man), Andy Booker (Schlagzeug; No-Man, Sanguine Hum), Steve Bingham (Viola) – erlesener Klang: in Summe ein bewegendes Erlebnis.
Schließlich gehörte die Bühne Iamthemorning und ihren Beiträgen wie ‘I.B. Too’, das sehr Tori Amos-hafte ‘Scotland’ oder ‘Sleeping Pills’ allein.
Marjana mühte sich, das Geschehen mit einer Anekdote aufzulockern: “Nick Beggs hat mir mal gesagt »You bring glam back to Prog!«. Ihre Antwort sei gewesen »When was glam in Prog?!« Worauf man beispielsweise auf Rick Wakemans Capes hätte verweisen können. Oder auch lieber nicht. Der lobende Hinweis auf die in Ulft gebotenen wirklich geschmackvollen Arrangements für Violine und Cello dürfte ein sichereres Terrain darstellen…
Gazpacho
Erst ab etwa 22:30 Uhr beschloss der Auftritt der Norweger, einer von nur zweien in diesem Jahr, das ungemein lohnende Festival. Nach ‘Vera’, beiden Teilen von ‘The Walk’ und dem zweiten von ‘I’ve Been Walking’ wurden wir mit einer Premiere beschenkt, die eigentlich zu schön für weitere Worte war – der zusammenhängenden Aufführung von “Night”, anlässlich des zehnjährigen Jubiläums dieses Albums und dem zwanzigjährigen der Band.
Die Zugaben: ‘Know Your Time’ (“Molok”) und ‘Winter Is Never’ (“Tick Tock”). Wobei uns bezüglich des Wahrheitsgehaltes der letzten Aussage beim anschließenden Rückweg gelegentlich Zweifel kamen.
Live-Fotos: Tobias Berk