Mexicali (Cast, GnuQuartet), 19.04.-01.05.16
»Eine etwas andere Konzertreise«
2007 hatten einige Progfreunde und ich erstmals Gelegenheit, die mexikanische Band Cast aus Mexicali beim leider mittlerweile nicht mehr existierenden Progfarm-Festival in den Niederlanden kennenzulernen. Zwei weitere außergewöhnlich gute Konzerte in Bünde und zuletzt das Progressive Promotion Festival 2015 in Rüsselsheim folgten. Von Anfang an gab es einen sporadischen aber sehr freundschaftlichen E-Mail-Kontakt mit dem Leader und Keyboarder der Band, Alfonso Vidales. Da der Kontakt über die Jahre nicht abriss, war man über die musikalische Entwicklung der Band stets bestens informiert. Zu erwähnen ist noch, das Alfonso nicht nur Musiker, Komponist und Notar, sondern nebenbei auch einer der hauptverantwortlichen Organisatoren des in der Szene bestens bekannten Baja Prog-Festivals in Mexicali ist. So sollte es dann auch nicht ganz verwunderlich sein, dass in den vergangenen Jahren zweimal eine Einladung ausgesprochen wurde, doch mal über den Teich zu kommen und dieses Festival zu besuchen.
Leider wurde aus den unterschiedlichsten Gründen zunächst nichts draus, sodass ich davon ausging, dass dieses Thema wohl endgültig zu den Akten gehört. Doch bekanntermaßen hat das Leben ja stets neue Überraschungen parat. So auch kurz vor Weihnachten 2015, als mich und meinen Freund Wolfram erneut eine Mail erreichte, mit der Bitte doch zur musikalischen 60. Geburtstagsparty von Alfonso einzutrudeln. Erneut zeichnete sich ab, dass ein Flug ins Unbekannte auch diesmal nicht zustanden kommen würde. Wolfram war verhindert, und mir fehlte nach einem gerade zu verarbeitenden Herzinfarkt zunächst der Mut, alleine eine solche Reise anzutreten. Doch letztlich half alles Hadern und Zaudern nicht: Der Wunsch erstmalig so eine Herausforderung anzunehmen und dazu die aufmunternden Mails von Alfonso ließen mir dann doch keine wirkliche Wahl. Zumal schnell klar war, dass meine Tochter Lea die Rolle des Seelendoktors, Beschützers und Betreuers gerne übernehmen würde.
Mit Bauchgrummeln, aber auch mit gewaltiger Vorfreude ging es ans gemeinsame Planen, Buchen und was sonst so noch für solch eine Reise notwendig war. Als große Geste der Familie Vidales stellte sich heraus, dass sowohl für die Unterbringung in Mexicali als auch für die anschließend geplanten Tage in San Diego gesorgt werden sollte. In Mexicali wartete ein Fünf-Sterne-Hotel, in San Diego das Haus von Alfonsos Bruder Armando auf die Reiselustigen. Am 19. April war es soweit! Der Flug mit Zwischenstopp in London eröffnete knapp 13-stündige Aussichten auf einzigartige Natur und Landschaften. Als besonderes Bonbon begleitete uns auf fast dem gesamten Flug ein wolkenloser Himmel. So blieben uns keine Schönheiten verborgen. Weder das grüne Irland, noch das schnee- und eisbedeckte Grönland oder die unendlichen Weiten Kanadas und die beeindruckenden Berge und Canyons von Montana, Wyoming, Utah und Arizona entzogen sich den faszinierten Blicken.
Ob Rocky Mountains, Yellowstone National Park oder Grand Canyon aus der Vogelperspektive ein unvergessliches Schauspiel mit bleibenden Erinnerungswert.
Nach einer für mexikanische Verhältnisse kurzen Wartezeit stand schon der Fahrer von Alfonso mit gut gekühlten Getränken bereit, uns nach Mexicali zu chauffieren. Nach gut zweistündiger Fahrt durch die bergige Küstenregion mit teils wüstenähnlicher Landschaft näherten wir uns der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Trotz der landschaftlichen Schönheit wirkte alles sehr irreal. Zum einen die am Highway Rand getarnt stehende amerikanische Grenzpolizei, zum anderen auf mexikanischer Seite das in Sichtweite hell erleuchtete Hochsicherheitsgefängnis, dazu ein Hunderte Kilometer lang verlaufender, menschenunwürdiger Grenzzaun.
Hier wird schnell deutlich, was es bedeutet, im Grenzbereich zwischen Glück und Hoffnungslosigkeit zu leben. Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um in das Land ihrer Träume zu kommen – an der Südgrenze der USA gibt es das seit Jahrzehnten. Was innerhalb Deutschlands glücklicherweise Geschichte ist, ist hier noch schonungslose Realität. Auch wenn dieser Eindruck unverkennbar seine Spuren hinterließ, stand dem gegenüber die grenzenlose, herzliche Gastfreundschaft der Mexikaner. Da ein Entziehen unmöglich war, nahmen wir trotz großer Müdigkeit selbstverständlich das liebevoll gemeinte Angebot Alfonsos gerne an, eine vollständige Studiosession von Cast in seinem Hause mitzuerleben.
Bestens mit Ohrstöpseln ausgestattet, lauschten wir dem privaten Konzert. Nach gut zweistündigem musikalischen Hochgenuss, die Erschöpfung fast vergessend, einem den Hunger vertreibenden, nächtlichen Kurzbesuch in einer Taco-Bar sowie der Besichtigung des Baja Prog-Monuments ließ es sich Alfonso nicht nehmen, uns persönlich im Hotel Araiza abzuliefern.
Die nächsten Tage waren u.a. geprägt von einem üppig, traditionell geprägten Prachtfrühstück. Ich verzichte darauf, dieses näher zu beschreiben, um bei den Lesern keinen Kalorienschock auszulösen. Frisch gestärkt wartete stets der bestens organisierte Fahrdienst mit der liebenswerten Titus, dem selbstbewussten Felippe und dem Boss Alfonso höchstselbst. An den letzten Tagen ließ es sich der äußerst hilfsbereite Armando ebenfalls nicht nehmen, als Reiseführer zu fungieren. Auch wenn in Mexicali die dargebotenen besonders köstlichen Gerichte einen wesentlichen Bestandteil einnahmen, stand die Musik dennoch im Vordergrund.
Tagtäglich war die große musikalische Familie bestehend aus der Band Cast (Antonio Bringas Caire – Drums, Carlos Humaran – Bass und Mädchen für alles, Robert Izzo – Violine, Claudio Codero – Guitars und Alfonso Vidales – Keyboards) und den italienschen Klassikmusikern des GnuQuartets (Francesca Rapetti – Flöte, Stefano Cabrera – Cello, Roberto Izzo – Geige, Raffaele Rebaudengo – Viola und der inzwischen wohl leider Ex- guten Managementseele Claudio Cutrone) beisammen.
Am späten Morgen ging es dann los mit den täglichen Proben und Soundchecks. Die beste Vorbereitung für die bevorstehenden, einzigartigen Abendkonzerte. Noch nicht einmal die auch für mexikanische Verhältnisse im April ungewöhnliche Hitze bis zu 36 Grad konnte alle Beteiligten in irgendeiner Weise bremsen.
Als Erlebnis der besonderen Art erwiesen sich die Konzerte des GnuQuartets. Mit seiner unvergleichlichen Darbietung aus einem Mix aus Klassik, Pop, Rock und auch einer Prise Prog begeisterte es die Zuhörer und zog sie bis zum allerletzten Ton in seinen Bann. So verblüffte es auch nicht, dass die Events bis zum letzten Platz besetzt waren.
Wobei noch zu erwähnen ist, dass das mexikanische Publikum eine ausgesprochene Musikalität und Offenheit für Neues mitbringt, das spiegelte sich ganz besonders im großen Interesse von Jung und Alt wieder. Als einer der vielen Höhepunkte dieser musikalischen Reise darf natürlich das Konzert meiner mexikanischen Freunde von Cast nicht unerwähnt bleiben. Dieser Open-Air-Gig bei moderaten abendlichen Temperaturen bot den Lokalmatadoren die Gelegenheit, vor eigenem Publikum zu Höchstform aufzulaufen. Die bestens dazu passenden Lichteffekte und der gemeinsame Auftritt mit dem GnuQuartet sollten Highlights des Abends werden. Komplexer und sehr dynamischer Progressive Rock vom Feinsten stieg in den Abendhimmel und begeisterte einige Hundert Mexikaner.
Wer nun gedacht hatte, das es das schon war, mit den musikalischen Köstlichkeiten, sollte eines besseren belehrt werden. Da gab es ja noch den eigentlichen Grund der Reise – Alfonsos Geburtstagsparty! Diese fand dann auf einer angemieteten Ranch unweit vor den Toren Mexicalis statt. Gefühlte 150 gut gelaunte Freunde waren an diesem Festtag das dankbare Publikum für weitere musikalische Freuden. Für kühle Getränke war selbstverständlich ausreichend gesorgt und auch der kleine bzw. große Hunger hatte keine Chance, sowohl kulinarische als auch musikalische mexikanische Spezialitäten bestimmten den Abend.
Als besonderen Leckerbissen gab es eine Vorstellung traditioneller, mexikanischer Folklore, bekannt als Mariachi. Dabei handelt es sich um die wohl beliebteste und populärste Musik Mexikos. Die Kapellen, die diese Musik spielen, treten immer in einheitlichem Gewand auf, das sie sich erst um 1930 von den reitenden Rancheros (Charros) abschauten. Die Charro genannte Tracht besteht aus gold- oder silberbetressten schwarzen Anzügen (enge Hose und kurzes Jäckchen), spitzen Cowboystiefeln und einem breitkrempigen Sombrero. Das war nicht nur etwas für die Augen.
Die Lieder, Mariacheros genannt, erklingen eigentlich zu allen Anlässen wie Taufen, Hochzeiten, Messen und eben Geburtstagen. Die wichtigsten Elemente der Mariacheros sind die großen, menschlichen Gefühle. Sie erzählen mal melancholisch von unerfüllter Liebe und sehnsuchtsvoller Leidenschaft, mal voller Stolz von der Schönheit Mexikos, den würdevollen Frauen, und natürlich von den unbeugsamen Machos. Was für eine wunderbare Gelegenheit, etwas mehr von einer uns bis dato unbekannten Kultur zu erfahren.
Die musikalische Weltreise dieses Abends war aber noch nicht zu Ende. Nach diversen astreinen Rockdarbietungen einiger befreundeter Bands ließ es auch Carlos Humaran mit seinen Jungs und Klassikern der Rockgeschichte noch ordentlich krachen. Dazu als Farbtupfer und Gegenpol die passenden Einlagen des GnuQuartets. Abschließend ließ sich Alfonso mit seiner Oldie-Truppe nicht lange bitten. Sein guter Freund Ernesto Sanchez sorgte mit Gesang und vor allem mit seinem mexikanischem Charme und Witz für beste Stimmung. Leider neigt sich auch das unvergesslichste Event einmal dem Ende zu. Nach einer viel zu kurz geratenen Nacht und einem darauf folgenden sehr, sehr emotionalen Abschied von all unseren neuen Freunden ging es mit Armando zurück ins wundervolle San Diego. Für die restlichen Tage unseres Trips bedeutete das: Verarbeiten des Erlebten, Relaxen, gemeinsames Sightseeing mit dem liebenswerten und sehr aufmerksamen Gastgeber, natürlich garniert mit dem allgegenwärtigen American Way of Life in Verbindung mit einer charmanten Prise Mexican Style.
Bei entspannten 22 Grad vergingen diese Tage wie im Fluge, so ließ sich der unvermeidliche Abschied von Sonne, Strand und den vielen gut gelaunten Menschen leider nicht länger hinauszögern oder gar vermeiden. Auch wenn dieser unvergessliche Traum dann mehr oder weniger ein jähes Ende auf dem Flughafen Düsseldorf fand und das natürlich bei typisch deutschem Wetter, bleibt eines: Die Erinnerungen an diese tolle Zeit gehen ganz bestimmt nicht verloren.
Wer sich ein wenig musikalisch an unser Erlebnis herantasten möchte, wenn auch nur ersatzweise, hat voraussichtlich Ende September die Möglichkeit, eine Blu-ray der Auftritte von Cast und des GnuQuartets zu erstehen. Mehr Informationen gibt es hier, sobald diese Scheibe verfügbar ist.
Text und Bilder: Horst-Werner Riedel und Lea Riedel
Bewegtbilder zum Bericht:
Cast
GnuQuartet 1
GnuQuartet 2
GnuQuartet 3
GnuQuartet 4