(68:02, CD, earMUSIC, 2016)
Vier Jahre nach “Sounds That Can’t Be Made” veröffentlichen Marillion mit “F.E.A.R.” ihr 18. Studioalbum. Erneut wurde das Projekt mit Hilfe der Fans vorfinanziert, mittlerweile eine gute Tradition.
Mitte der Neunzigerjahre befanden sich Marillion auf einem kreativem Hoch – Alben wie “Brave” und “Afraid of Sunlight” dürften zu den am meisten geschätzten Werken bei den Fans gehören. Gleichzeitig blieb leider der kommerzielle Erfolg aus. In den folgenden Jahren machte sich die Band mit Hilfe ihrer Fans unabhängig von Labels und Vorgaben. Allerdings produzierten die Jungs um Steve Hogarth in dieser Zeit auch einige eher durchschnittliche Alben, und selbst auf den von den Fans hoch geschätzten “Marbles” und “Happiness Is The Road” gab es neben großartigen Titeln gelegentliches Füllmaterial zu hören. Vielleicht eine Kehrseite der kreativen Freiheit? Auch Sänger Hogarth verlor sich zu oft in übertriebenen emotionalen Trips, die manches Mal übers Ziel hinausschossen. Der Rezensent geht also mit einer gewissen Portion Skepsis an seine Arbeit.
Nun also “F.E.A.R.”, was gleichzeitig für Angst oder auch “Fuck Everyone And Run” steht. Ob dies nun als genialer Einfall oder eher ein verkrampftes Wortspiel zu werten ist, sei jedem selbst überlassen. Wenden wir uns lieber der Musik zu. Im ersten Longtrack ‘El Dorado’ geht es textlich um die dramatischen Veränderungen in der Welt und jene, die da noch auf uns zukommen werden. Hogarth schreibt hier mit spitzer Feder, lässt aber dabei den Zeigefinger unten. Das Intro lässt aufhören, verwöhnt es doch mit ungewohnt schöner Akustikgitarre und einen glänzend aufgelegten Hogarth. Wenn etwas typisch britisch sein sollte, dann wohl dieser Auftakt.
Die folgenden knapp 16 Minuten zeigen Marillion von ihrer besten Seite: Da wären die stets stilvoll agierenden Pete Trewavas (Bass) und Ian Mosley (Drums), umrahmt von der verlässlich großartigen Gitarrenarbeit eines Steve Rothery. Auffällig ist, wie geschmackvoll und elegant Mark Kelly sämtliche Tasteninstrumente bedient. Auf vergangenen Alben gab es hier den einen oder anderen Ausrutscher. Der gesamte Track entwickelt einen fast schon hypnotischen Sog. Dennoch, und das ist im positiven Sinne gemeint, bedienen sich Marillion häufiger bei sich selbst. Mehr als einmal hört man Echos aus “Brave”- oder “Afraid of Sunlight”-Zeiten (z.B bei ‘El Dorado IV: F.E.A.R.’ wo ‘King’ deutlich grüßen lässt).
Weiter geht es mit einem der beiden kürzeren Track des Albums, wobei auch solche Titel bei Marillion nicht unter sechs Minuten Spielzeit einlaufen. Sollte man auf „F.E.A.R.“ eine Single mit der Lupe suchen müssen, dann wäre es wohl ‘Living In F.E.A.R.’. Der eingängige Refrain schreit aber etwas zu sehr nach Stadion-Rock – eine Attitüde, die Marillion noch nie sonderlich gut zu Gesicht stand. Im Vergleich zu gleichartigen Versuchen auf vergangenen Alben bekommen Hogarth & Co hier aber doch recht anständig die Kurve. Uns bleibt damit ein zweites ‘Drilling Holes’, ‘Cannibal Surf Babe’ oder ‘Answering Machine’ erspart. Trotz allem fällt der Titel etwas aus dem Rahmen.
Zum Glück fällt dies nicht weiter ins Gewicht, denn mit ‘The Leavers’ bescheren uns Marillion wohl einen der besten Tracks der jüngeren Bandgeschichte. Der Song behandelt in gut 20 Minuten das Leben auf Tour, jeweils aus der Sicht der Verreisten (Leavers) und der Daheimgebliebenen (Remainers). Ein interessanter textlicher Ansatz, der sich auch komplett auf die Songstruktur niederschlägt. Was die Band hierbei auffährt, hat fast schon cineastische Dimensionen. Der Anfang ‘Wake Up in Music’ könnte aus einem Thomas Newmann-Soundtrack stammen. Hier passt jedes Stück aufs nächste, bauen sich die atmosphärischen und rhythmischen Part zu etwas auf, das in dieser Form vermutlich nur Marillion auf die Beine stellen können. Großes Kino und wohl das heimliche Highlight auf “F.E.A.R”.
Mit ‘White Paper’ folgt der zweite etwas kürzere Titel. Eine äußerst emotionale Reise durch “H”s Gefühlswelten, die vor allen textlich viele Highlights zu bieten hat. Es geht allgemein ums Älterwerden und den Blick zurück sowie nach vorne. Glücklicherweise findet Hogarth stets die richtigen Worte und erspart sich kitschige Momente (stark ist die Textzeile “I used to be centre stage, time I should act my age”). Musikalisch erwartet den Hörer ein äußerst klassischer Marillion-Titel. Wunderschöne Harmonien, in die man sich aber reinhören muss, steigern sich und enden in einem furiosen Finale. Natürlich hat man das genauso schon oft von der Band gehört, aber es mag auch dieses Mal einfach nicht langweilig werden.
Das Album schließt mit dem schon vorab veröffentlichten, ebenfalls gut 16-minütigen ‘The New Kings’. Auch hier gibt es wieder die typischen Trademarks der Band zu hören und es werden Reminiszenzen an vergangene Großtaten wach. Besonders stark fällt hier das abschließende und leicht aggressive ‘Why Is Nothing Ever True?” auf.
Mit “F.E.A.R.” gehen Marillion einen Schritt zurück, und präsentieren sich in lange nicht mehr gehörter Hochform. Nach mehreren Alben, auf denen sich die Band immer ein wenig verzettelte, darf man hier wieder die Essenz von dem hören, was sie so einzigartig in der Prog-Szene gemacht hat. Positiv zu erwähnen ist auch, dass Steve Hogarth auf die überschwängliche Dramatisierung vergangener Tage verzichtet, was der Stimmung des gesamten Albums zugute kommt.
Die eingefleischten Fans der Band werden dieses Album sowieso lieben. Aber auch alle, die Marillion womöglich etwas aus den Augen verloren haben, sollten (oder besser müssen) “F.E.A.R.” eine Chance geben. Selten war die Band so gut aufgelegt.
Bewertung: 13/15 Punkten (DH 14, HK 13, JM 8, KR 12, KS 12, AI 12, PR 12)
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