»Back to the Garden«
Der alljährliche Besuch im Garten Eden – Anekdoten vom schönsten Wochenende des Jahres. Anekdoten? Nein, die schwedische Band dieses Namens spielte 2016 dort nicht. Sie sind aber seit ihrem ersten Auftritt im Jahr 1995 den Festival-Organisatoren in guter Freundschaft verbunden. 1995 besuchte ich nicht nur, aber auch ihretwegen dieses Fest zum ersten Mal.
Die Burg Herzberg selbst war schon 1968 Schauplatz eines Hippie-Festivals mit 300 Besuchern. Das Areal um die Burg herum war nach etwa 20-jähriger Pause von 1991 bis 1996 Austragungsort. Für diesen Platz ist das Spektakel längst einige Schuhnummern zu groß. Die Karawane ist also an den Fuß des Berges gezogen, hat sich dort vergrößert und häuslich eingerichtet: Zwei große Bühnen, Pavillons mit Livemusik, Lesezelt, Kinderland, Partei-Stand (ja, DIE Partei), zig Cafés, Solar-Handy-Aufladestation … – you name it, they have it. Die Burg selbst ist nur noch aus der Ferne zwischen den Baumwipfeln auszumachen und in Rastafarben illuminiert. (Gibt es die ominösen Burgherrenbrüder nebst Förster eigentlich noch?)
Liebes Lumpenpack, nun muss ich doch Eurer steilen Vermutung widersprechen, es gäbe kein Leben vor 12 Uhr – und das auch noch in einem Bericht zu einem Musikfestival! Denn:
Am zum Pressebüro umdeklarierten Bauwagen klebt ein Zettel mit der Information, das Pressebüro öffne um 9 Uhr. Ja, vormittags 9 Uhr. Um 9 Uhr öffnet ein sympathischer Mensch diesen Wagen, kurz darauf habe ich ein senffarbenes Armbändchen nebst Fotopass, schüssle mit meinem Auto ein paar Kilometer durch den Wald zum regulären Eingang und stehe ohne jegliche Einlass-Warteschlange auf dem Festivalgelände. Im kunterbunt bemalten Bus hinter mir: gleich mal äußerst angenehme Bekanntschaft gemacht – Musikkneipenbetreiber aus Deutschlands Südwesten nebst Sohn.
Mein Auto parkt im Irgendwo. Dieser riesige Campingbereich heißt im Lageplan „Neue Heimat“, im Volksmund wird er vereinfachend und treffend „Stoppelacker“ genannt. Mein Zelt, meine Basisstation, sollte eigentlich auch in diesem Jahr gleich hinter dem Freakshow Artrock Festival-Stand neben der Freak Stage stehen. Bin ich doch auch und in erster Linie hier, um Charly Heidenreichs drei aufs Festivalprogramm gebrachte Bands Alfie Ryner, Uhl und CHATO! zu fotografieren. Nun fehlt sein Stand, aus familiären Gründen ist der Meister des Freakshow Artrock Festivals nur kurz zugegen.
Nur gut, dass die Nachbarn dieselben geblieben sind. Die gastfreundlichen Art-Verwandten, Organisatoren der jährlich an der Ostsee stattfindenden Zappanale, haben ihr Refugium neben der Lücke, die der zentrale Treffpunkt von Liebhabern schräger Jazz-Rock-Töne gewesen wäre. Haben Platz, haben einen herrlich schrägen Humor, haben ihren eigenen frischen Zappanale-Film dabei (unbedingt ansehenswert!) – und auch dies: haben Strom!
Um Mittag herum, noch kein offizieller Act hat eine der beiden großen Bühnen betreten, ist Musik aus verschiedenen Richtungen zu hören, spontane Jams zumeist. Musikliebhaber, die Instrumente dabei haben und weiter reichen, treffen sich. Ein spannender akustischer Regenbogen tut sich auf. Dazu diese vielen schönen, umsichtigen, bunten Menschen jedes Alters! Wo sind sie alle in den restlichen 51 Wochen des Jahres?
Dann der erste Act der Hauptbühne, neudeutsch „Main Stage“ genannt. Auf der Bühne sitzt Mohammad Reza Mortazavi (und nur er). Er versetzt das staunende Publikum mit seinem irrwitzigen Spiel auf verschiedenen persischen Trommeln in einen kollektiven Trancezustand.
Beseelt stolpere ich hinterher am Eclipsed-Stand über Bent Knees Schlagzeuger Gavin Wallace-Ailsworth. Geht es noch besser?! Es ist die erste kleine Europatour der Bostoner Crossover-Wunderkinder, noch sind die sechs Musiker im Jetlag und beeindruckt von der Größe des Spektakels. Kurz darauf: Die Band winkt vorsichtig ins Publikum, von dem Gitarrist Ben Levin später sagen wird, es wäre zahlenmäßig gigantischer als das Publikum ihrer ersten drei USA-Touren zusammengenommen. Frontfrau/Keyboarderin Courtney Swain steht in der Bühnenmitte und singt, interpretiert, haucht und brüllt ihre Texte in die Menge, als hätte sie nie anderes getan. Und die Menge singt mit! Ihr Programm besteht hauptsächlich aus ihrem aktuellen Album „Say So“ und einer Handvoll Songs, die noch zu neu sind für dieses Album. Sperrige, im positiven Sinne ätzende Stücke wie die ebenfalls aus Boston kommende Amanda Palmer können sie komponieren, doch dann wieder geben sie sich sinnlich, versöhnlich und schwebend. Eine erfrischend andere und wunderschöne Band! Diese Berklee-Studenten sind so von der Muse geküsst, sie sind sicher noch nicht mal an ihrem künstlerischen Zenit angekommen.
Was bei den später am Abend auf der Main Stage auftretenden Blues Pills vielleicht schon der Fall ist. Ist ihre Stilrichtung, der erdige Hardrock, eben auch ein so viel engeres Korsett. Was soll’s! Eine Blues-Truppe, die eine so mächtige Stimme wie die von Elin Larsson und ein so filigranes Gitarrenspiel wie das von Dorian Sorriaux dabei hat, ist eine Bank!
Doch ich greife vor! Ich hätte zuschauen können, wie vom Bent Knee-Konzerterlebnis geplättete Menschen den Musikern beim Abbauen zuschauen. Und schmachten. Doch um 18 Uhr spiele das Lumpenpack im Lesezelt, erinnert mich mit Nachdruck mein Begleiter, und wenn dies das bekannte Duo aus dem Fernsehen wäre, müsse ich es mir ansehen! Ich verstehe Bahnhof und gehe mit. Curiosity killed the cat. Am Lesezelt-Eingang bekomme ich noch ein Buch aus der „Zu verschenken“-Kiste geschenkt. („Hier, schenke ich dir, musst du lesen“).
Zwei schmale Songwriter, einer hat eine Gitarre in der Hand, der andere Konfetti. Sie besingen das bittersüße Heranwachsen in der deutschen Provinz: und treffen ins Schwarze! Ihr Leiden auf zu feinen Partys: perfekt auf den Punkt gebracht! Den Berufsstand der Heilpraktiker: brillanter Humor auf mehreren Ebenen! Die ganz große Sehnsucht, das Beste aus dem Tag zu machen und die Jahre mit jedem Silvester an sich vorbeiziehen zu sehen. Spontane Dialoge mit dem Oberkörper-beschrifteten Herrn im Publikum („Was steht da drauf? Hardcore Love Machine? Wie kommst du denn dazu?“ – „Ich habe nicht die geringste Ahnung“) sind zu gut, um vorher ausgedacht worden zu sein. Was für schnodderige Mittzwanziger-Weisheiten!
Nach dieser Wort-Offenbarung fiedeln auf der Freak Stage noch Angelcy, ein Sextett aus Tel Aviv. Aha, guck an, da steht doch der Lockenkopf auf der Bühne, der in der Warteschlange am leckeren Inder hinter mir hebräisch geredet und auf Deutsch bestellt hat: Das ist also Bandleader Rotem Bar On. Die Songs bewegen sich zwischen folkigem Friedensappell und sanftem Pop in Midtempo. Ecken und Kanten hat das Ganze nicht und will es nicht haben – dafür eine sympathisch-multikulturelle Bühnenpräsenz und eine wichtige Botschaft.
Pain of Salvation! Die schwedische ProgMetal-Band dürfte so alt sein wie der Begriff „ProgMetal“ selbst. Kopf der Band, Sänger und Gitarrist Daniel Gildenlöw zeigt sich in Bestform, die Band spielfreudig. Konsequent: Ihr Set beginnt mit der ersten Hälfte ihres kürzlich neu aufgelegten Jahrhundertwerks „Remedy Lane“ aus dem Jahr 2001. Und auch wenn es sich langsam einregnet, das Publikum lässt sich auf die emotionale und musikalische Achterbahnfahrt ein und zollt dem brachial lauten Spektakel von Song zu Song mehr Beifall. Klassiker aus allen Schaffensphasen der Band folgen. Ein würdiger Co-Headliner des ersten Festivaltages.
Später am Abend auf der Freak Stage: Ich höre Ansagen in einem lustigen Pidgin-English und ein linkshändiger Gitarrist gibt saitenvirtuosen Kongorhythmen-Punk. Was ist denn da los, alle vier Musiker sind doch weiß?! Ah, die französische Band heißt Ma Valise, französisch für „mein Koffer“, aus dem symbolisch die Band auf ihren musikalischen Reisen lebt. Scheinen viel unterwegs zu sein, denn auf dem Kontrabass des Franzosen klebt witzigerweise der sehr deutsche Aufkleber mit dem berühmten durchgestrichenen „Stuttgart 21“. Die Mischung? Balkan-Latin-Afrobeat, zusammengehalten von den wuchtigen Tönen eines Kontrabassisten, dessen Show seiner musikalischen Präsenz keinen Abbruch tut. Was für eine Spielfreude! Eine Festival-Entdeckung jagt die andere!
Lazuli, die wie keine andere Band den französischen Chanson mit progressiven Songstrukturen und experimentellen Soundcollagen vermengt, spielen anschließend famos den Rausschmeißer auf der Main Stage. Inclusive Instrumententausch, Vibraphon-Eskapaden und dem herrlich schwebenden Klang ihres ureigenen selbstgebauten Instruments, der Léode.
Wobei, Rausschmeißer, im Festivalbetrieb ist das relativ. Das Fest schläft nie. Zwar endet um halb drei Uhr die Livemusik, doch an der Mental Stage bringt sich der DJ des Abends in Stellung, um bis zum Morgengrauen Kurioses aus fünf Jahrzehnten Jazz-Rock unter das musikbegeisterte Publikum zu bringen. Und der Mann an den Turntables ist: Meister Freakshow Artrock Festival! Wenn auch nur für ein paar Stunden auf dem Fest anwesend.
Wie entspannt und ruhig im Vergleich zur Nacht der Morgen sein kann! Auf den Sofas der „Bar Jeder Sinne“ lümmeln noch Schläfer. Der Duschbereich, alljährlich an zentraler Stelle zwischen den beiden großen Campingwiesen, ist dreigeteilt: Frauendusche, Männerdusche, Hippiedusche. Brötchenduft liegt in der Luft, denn die Bäcker der Umgebung haben vormittags hier ihren Heckklappen-Verkaufsstand.
Die Entdeckungsreise geht weiter: Soloprogramm von Gitarrist Martin C. Herberg, exzessiver Klezmer von Ramzailech, Wolkenbruch und Regentanz dazu inclusive. Auch zu Hauptact und Weltklasse-Violinist Nigel Kennedy, der mit phantastischer Band seine Jimi-Hendrix-Interpretationen zum Besten gibt: Regen. Doch wie andächtig die Menge ihm zuhört! Nur ein einziges Smartphone ragt aus der Menge!
Der Regenmatsch sorgt für erste Ermüdungserscheinungen bei mir. Wucan, diese frische wuchtige Bluesrock-Band aus Dresden, sie sehe ich nur für ein paar Stücke. Ach, höre ich es nicht genauso gut, doch im Trockenen, in meinem Zelt?! Und es geschieht, was geschehen muss: Weit nach Mitternacht werde ich von mir vertrauten mitreißend-kratzigen Klängen von Alfie Ryner geweckt! Oder eher von Frontmann Paco Serranos hypnotischem polyglotten Sprechgesang, der dem Ganzen die unverwechselbaren Kanten verleiht? Eingeschlafen bin ich, wie peinlich. Das darf niemand erfahren! Nix wie raus und eingegroovt in diese avantgardistischen und doch greifbaren Rhythmen! Gitarrist Gérald Gimenez erzählt mir später, Pain of Salvations Schlagzeuger Léo Margarit kenne er entfernt noch aus Jugendtagen. Die Welt ist ein Dorf.
Wenn sich, anderntags, um die Mittagszeit Menschen mit ihren Gitarren auf der Wiese vor der Freak Stage niederlassen, dann ist es wieder Zeit für PeterBurschs Gitarrenkurs. Und wer weiß, für den einen oder anderen ist dieser Samstagmorgen eine Initialzündung. Mit seiner Kultband Bröselmaschine wird Bursch tags darauf auf der Main Stage spielen.
Soundcheck-Geräusche sind schon zu hören, da kommt mein Zappanale-Nachbar mit einem Zettelchen und zwei Neuigkeiten auf mich zu: einer Schlechten und einer Schlechten. Charly wird seine heutige Band, Uhl aus Saarbrücken, nicht hören und ansagen können. Und: Uhl spielen nicht! Was aber bedeutet dann die Soundcheck-Geräuschkulisse? Aha, Uhl-Bassist Lukas Reidenbach ist krank, dafür bringen die verbleibenden beiden Musiker Martial Frenzel am Schlagzeug und Johannes Schmitz an der Gitarre zwei weitere Musiker mit, und mit diesen sind sie die Formation Hydropuls. Songschreiber ist Highspeed-Bassist Tom Lengert, Posaunist Christoph Tewes gibt die verqueren Soli und launigen Kommentare dazu. Ungezügelter Jazz ist das, und er kommt fantastisch an!
Neben den drei Festivalbühnen gibt es noch eine weitere Bühne auf Campinggelände, den Höllenschuppen. Er ist liebevoll mit bunten Tüchern verkleidet und hat weniger Raum in die Breite als in die Tiefe. Bei entsprechender Beleuchtung ist er nachts ein psychedelischer, unwirklicher Ort. Ideal für Klangflächen-Zauberer wie die Space Invaders. Das Kollektiv um den schweizer Gitarristen Mike Häfliger wird diesmal komplettiert durch Plattenladenbetreiber Sunhair am Soundboard.
Zeitgleich lauscht eine andächtige Menge vor der Freak Stage den Poetry Slammern. Die drei jungen Menschen im Finale sind es wert, mal in Ruhe angehört zu werden, und sei es nur auf einem der einschlägigen Videoportale: Leticia Wahl, Tom Schildhauer und Samuel Kramer. Sie trotzen mit großer Wortkunst einer Band, die Kadavar heißt. Denn deren Klänge sind von der Main Stage her zu hören. Wie krass ist das denn. Und wie vielfältig das Festivalpublikum.
Krass beginnt dann auch der Sonntag auf der Freak Stage: Freakshow-Urgestein Chato Segerer bringt die zum Sextett angewachsene Band seines Namens mit und dann geht mittags um 12 ohne Vorwarnung die Prog-Fusion-Post ab! Und weil dieser Stilmix allein zu alteingesessen wäre, gibt’s als Live-Premiere ein achterbahnartiges Musik-Klischee-Medley. Ihr kennt das Stimmungsbüro Kreitmeier? Ihr kennt Sebkha-Chott? Daraus die Mischung und quadriert. Wenn auch nicht kostümiert.
Wenig später auf der Mental Stage: Soundscape aus Bremen. Die vier jungen Musiker berufen sich auf die Progressive-Rock-Heroen aus den 70ern, allen voran den frühen, im Wortsinne fabelhaften Genesis. Auch etwas Neuschwanstein oder Anyone‘s Daughter klingt an, doch ist das Ganze frisch, eigenständig und famos gespielt.
Mit dem Duo Dead Tuna, bestehend aus Country-Blues-Gitarrist Jeff Aug und Mundharmonikaspieler Hans Penzoldt, kommen dann auch wieder traditionellere, völlig unschräge Klänge von der Bühne. Freiwillig oder unfreiwillig den Brüller fand ich ja diesen Satz der Band, gerichtet an das entspannt groovende Publikum: „Genießt ihr den Blues?!“ Ich jedenfalls genieße diesen weitergesponnenen Gedanken ganz außerordentlich.
Zum Abschluss: eine Vorlesung. Vier Schwaben um Bassist und Buchautor tarnen sich perfekt als Rockband, doch im Grunde ist ihr Anliegen Aufklärung. Die Zeit der Anfänge der Rockmusik in den Baumwollfeldern der amerikanischen Südstaaten bis zum Woodstock-Festival 1970 ist das Thema. Live intonierte Stücke von Stücken, Theatralik inklusive, Texte in gestochener Schriftsprache, diese Mischung ist äußert kurzweilig. Wer kennt noch den unfreiwilligen Begründer des berüchtigten Club 27, den Blues-Gitarristen Robert Johnson, dessen Stücke auch Cream und die Rolling Stones spielten? Und warum wurde er fast vergessen? Oder: Gemessen am Musikgeschmack der amerikanischen Hippies und ihrer Vorliebe für Liedermacher würde z.B. Reinhard Mey bei Rock am Ring spielen, herrliche Vorstellung! Somit ist der Wortkünstler Fanny van Dannen, der an diesem Abend seine rasanten und bissigen Texte in einem Solo-Programm auf der Main Stage zum Besten gibt, hippiesk im eigentlichen Sinn. Derart über das große Ganze informiert, endet meine musikalische Entdeckungsfahrt für dieses Wochenende. Muss ja nicht jeder auf Orange (den letzten Festivalact) stehen. Wir sehen uns! Peace.
Surftipps zum Festival 2016, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Burg Herzberg Festival
Das Lumpenpack
Freakshow in Concert
Zappanale
Bent Knee
The Angelcy
Pain Of Salvation
Ma Valise
Lazuli
Ramzailech Nigel Kennedy
Wucan
Alfie Ryner
Bröselmaschine
Uhl/Hydropuls
Space Invaders
CHATO!
Maximum Rock
Fanny van Dannen
Text und Live-Fotos: Monika Baus