(Veröffentlichte Abschlussarbeit, Self-Publishing (Neobooks.com) 2015, 90 Seiten (E-Book), ISBN: 978-3-7380-1561-4, € 4,99)
Dass Prog-Musiker von klassischer Musik beeinflusst werden, scheint zunächst nicht neu – man denke an Werke wie “Concerto for Group and Orchestra” oder Musik von Emerson, Lake & Palmer oder Yes. So schreibt Finn Jacobsen auch in seiner Einleitung: “Um 1965 begannen Rockgruppen, Momente artifizieller Musik in ihre Songs zu integrieren, woraus eine zunehmende Rezeption und Auseinandersetzung dieser Rockmusiker und ihrer Hörer mit artifizieller Musik resultierte”.
So weit, so gut. Das ist der Ausgangspunkt für Jacobsens Buch “Berührungspunkte des Progressive Rock mit artifizieller Musik in den sechziger und siebziger Jahren”. Der Titel mag sehr ausladend daherkommen, er umschreibt aber genau, was den Leser erwartet. Jacobsen geht der Frage auf den Grund, warum es den Zusammenschluss von artifizieller Musik und Rockmusik gab und gibt, und ob und wie er umgesetzt wurde.
Passend zum Titel bleibt der generelle Ton sehr wissenschaftlich. Der Autor beschreibt sehr passend die Problematik, die verschiedenen Begriffe wie “Rock”, “Pop” und “Progressive Rock” zu definieren und auf der Grundlage eine wissenschaftliche Analyse zu betreiben. Es gibt immer Leute, die gerade in diesem Bereich anderer Meinung sind, und gerade Prog-Fans können da sehr stur sein. Interessanterweise ist es anscheinend bei der Definition von “klassischer” Musik (dieser Begriff allein reicht ja schon nicht aus) durchaus ähnlich. Eine weitere Problematik ergibt sich, da die Rockmusik im Vergleich zur artifiziellen Musik selten oder gar nicht als Partitur niedergeschrieben wird. Die Komponente Sound lässt sich auch nicht wirklich niederzuschreiben – man denke nur an Soundeffekte oder Synthesizer. Außerdem sind Interpret und Komponist meist ein und dieselbe Person/Band und Aufnahmen bieten die Basis für die wissenschaftliche Untersuchung. In der artifiziellen Musik sind die Niederschriften der Komponisten die Grundlage, Aufnahmen gibt es von verschiedensten Interpreten und sind nicht die erste Bezugsquelle.
Trotzdem versucht der Autor, den Einfluss von klassischer aka artifizieller Musik auf die Rockmusik, sprich den daraus resultierenden Progressive Rock, zu untersuchen. Dabei bleibt er wissenschaftlich und dementsprechend neutral, was gerade solch einer Thematik sehr gut tut. Seine Wortwahl ist manchmal anstrengend, das ist aber kein großes Manko. Er beginnt historisch mit dem Einfluss von artifizieller Musik auf den Jazz, bis er natürlich bei den Beatles ankommt, die Rock- und Popmusik chart- und massentauglich machten. Dann folgen weitere Beispiele bis 1980, von denen Jacobsen später einige dann in seiner Analyse aufgreift.
Als großen Einfluss sieht Jacobsen den sozialen Hintergrund vieler Prog-Musiker der 1970er-Jahre: Sie stammen weitgehend aus der gehobenen Mittelschicht, lernten ihre Instrumente meist als Kind und waren dementsprechend vertraut mit artifizieller Musik. Dies gilt vor allem für Keyboarder wie Keith Emerson und Jon Lord, die dann natürlich auch diejenigen waren, die dies in die Musik ihrer Bands integrierten. Als weiteren Einfluss sieht Jacobsen das für die 60er und früher 70er-Jahre typische Aufgreifen anderer Kulturen und Zeitalter in die aktuelle Kultur.
Jacobsen führt viele Kritiken, Definitionen und vor allem Zitate der beteiligten Musiker an, in denen sie erklären, welche Intentionen sie hatten, artifizielle Musik in ihre Rockmusik einzubringen. Oft wird vom Niederreißen der Grenzen zwischen der beiden Musikrichtungen gesprochen, dem Artifiziellen sollte die Ernsthaftigkeit genommen und der Rockmusik dieselbe gegeben werden. Also kurz ausgedrückt: Die Jungs wollten einfach als Komponisten und Musiker ernst genommen werden. Das ist ihnen auch gelungen. Viele Kritiker sahen darin jedoch gleichzeitig die Ideale des Rock verraten – einer rebellischen Musik, die Spaß machen sollte. Zu Prog kann man halt nicht unbedingt tanzen, sie ist eher kopflastig.
Es folgen Analysen musikalischer Beispiele, die auf verschiedene Kriterien wie Spieltechniken, Klanganlehnungen und Songstrukturen untersucht werden. Es werden immer wieder passende Beispiele für die betreffenden Kategorien genannt. Hauptkünstler, an denen sich Jacobsen abarbeitet, sind Ekseption, ELP, Deep Purple und Procol Harum. Hier könnte man natürlich darauf eingehen, dass es noch viele andere Beispiele gibt, aber diese sind als Repräsentanten mehr als passend. Interessant ist die Anmerkung, dass all diese Bands und ihre artifiziellen Werke fast nur in Europa erfolgreich waren, in den USA jedoch kaum.
Von den vier genannten Bands gibt es im Anhang kurze Biografien, ansonsten gibt es ein schönes Diagramm, in dem dargestellt wird, wer aus den klassischen Progbands mit wem wann und wo zusammengespielt hat (ganz schön inzestuös, das Genre), und eine Auswahl-Diskografie klassischer Prog-Bands. Auch hier wird es sicherlich Leute geben, denen die eine oder andere Platte fehlt, oder die nicht nachvollziehen können, was manch andere Scheibe dort zu suchen hat. Doch jede Nennung hat ihre Berechtigung und zeigt wieder einmal einerseits wie vielseitig das progressive Genre ist, und andererseits, wie schwer es einzuschränken ist. Und eigentlich ist das doch auch gut so.
Fazit: Das Buch hält, was es verspricht. Jacobsen bleibt sachlich – vor allem Musiktheoretiker, die sich für das Sujet interessieren, werden ihre pure Freude an seinem Werk haben. Auch für Nicht-Musiker ist es aufschlussreich und interessant.