»Das Rind wurde zu einem kleinen Hexenkessel«
Als Opener des dreitägigen Festivals wurde die allseits bekannte Münchner Band RPWL mit ihrer Pink Floyd Show verpflichtet. Da wir (die Kölner Proggies verstärkt durch unseren niederländischen Freund und Fahrer Rob (Hanemaayer, Beyond Rock) uns erst am zweiten Tag auf den Weg nach Rüsselsheim gemacht hatten, entging uns dieser Auftritt. Wie uns aber Vollzeit-Festivalbesucher glaubhaft versicherten, gab es wie nicht anders zu erwarten ein perfektes Hörerlebnis.
Der Freitag begann dann mit einer kleinen Überraschung, die Reihenfolge der Auftritte wurde auf Wunsch der deutschen Band Seven Steps To The Green Door kurzfristig variiert – und somit ging es bereits gegen 17.00 Uhr mit dem ersten Knüller des Abends los.
SSTTGD wurde im Jahr 2004 von Schlagzeuger Ulf Reinhardt, Bassist Heiko Rehm und Keyboarder und Saxophonist Marek Arnold (Toxic Smile, Ex-Stern-Combo Meißen, Flaming Row) gegründet. Später stießen Sänger Lars Köhler und Martin Schnella hinzu, der nicht nur als neuer Gitarrist für die 2015er CD angeheuert wurde. Anfang 2006 wurde die Band durch die Stimme von Anne Trautmann komplettiert. Als Ergänzungssänger und derzeit feste Größe unterstützt zusätzlich Thomas Schulz die Band, jedoch nicht nur auf der aktuellen CD sondern auch bei Live-Auftritten.
Nach dem 2006 veröffentlichten und prämierten Debütalbum “The Puzzle” folgte 2008 das zweite Album “Step In 2 My World”. 2011 erschien das Konzept-Gesamtkunstwerk “The?Book”, welches als Album, Mediabook und iOS-App den Umgang mit Glauben und Selbstfindung kritisch aufarbeitet. Das PPR-Festival bot nunmehr die geeignete Bühne für den Release Zeitpunkt der aktuellen CD “Fetisch”.
Über welche Qualitäten die Band nicht nur auf Ihren Scheiben verfügt, zeigte dann ihr energiegeladener Auftritt. Der etatmäßige Sänger Lars Köhler weilte leider auf einem längeren Australien Trip und so mussten die Gesangsparts – nach nur einer einzigen gemeinsamen Übungssession! – vom “Aushilfs”-Sänger Thomas Schulz gemeinsam mit Anne Trautmann gemeistert werden, was vorzüglich gelang. Der Festivalbesucher erlebte einen Mix aus Art-Rock, Progressive Metal, Jazz, Rap und Pop. Ruhige Passagen wechselten sich mit dynamisch geladenen Gesangs- und Instrumentalpassagen ab. Langeweile? Fehlanzeige!
Ideenreichtum, Virtuosität, Lebensfreude und Lust auf Musik sind sicherlich nicht die einzigen nennenswerten Attribute für diesen tollen Auftritt, dieser sehr sympathischen Musiker. Nach ihrem Auftritt ließen sie es sich nicht nehmen, geduldig jeder Anfrage auf Signierung ihrer CDs nachzukommen.
Mit der im Jahr 2005 in Luxemburg gegründeten Band Light Damage folgte der nächste Act. Zu Beginn ihrer Karriere starteten die Musiker als Coverband u.a. mit Material von Pink Floyd und Genesis, bis im Verlauf der Jahre immer mehr eigenes Songmaterial präsentiert werden konnte.
Nach einigen Umbesetzungen in den vergangen Jahren veröffentlichte man in der Besetzung Nicolas-John Dewez (Gesang; Gitarre), Stephane Lecocq (Gitarre), Thibaut Grappin (Drums), Sébastien Perignon (Keyboards), Frédérik Hardy (Bass) im Oktober 2014 das in Eigenregie produzierte Album “Light Damage”.
Einige der Festivalbesucher dürften die Band bereits beim 2015er Prog résiste Convention-Festival im belgischen Sognies erlebt haben. Geboten wurde erwartungsgemäß NeoProg mit teils etwas härteren Passagen. Liebhaber diesen Genres dürften sicherlich Ihren Spaß gehabt haben.
Wie so häufig im Leben, alles Gute kommt zuletzt und tatsächlich mit The Enid folgte wie erhofft und erwartet der Höhepunkt des Freitags. 1974 von Robert John Godfrey, Stephen Stewart und Francis Lickerish gegründet und nach vielem Auf und Ab sowie etlichen Umbesetzungen auch nach über 40 Jahren des Bestehens schlichtweg die Kultband der Szene. Godfrey, Chef und dér Songschreiber, blieb als einziges ständiges Mitglied allen Besetzungen bis heute erhalten.
Inszeniert wurde die abendlich, musikalische Romantiktour durch die Herren Robert John Godfrey (Keyboards/Arrangements), Joe Payne (Gesang, EWI), Jason Ducker (Gitarre), Max Read (Gesang, Keyboards, Programming), Nic Willes (Bass, Percussion) und last but not least Dave Storey (Drums and Percussion). Unter anderem präsentierte The Enid einige Perlen aus ihrem aktuellen Album “The Bridge”, aber auch die 2012 erschienene Scheibe “Invicta” sollte nicht zu kurz kommen. Über die Qualität des Vortrags, der Musik bzw. der Musiker muss keine lange Abhandlung verfasst werden. Am besten drückte dies mein Stehnachbar aus, der The Enid erstmalig erleben durfte und nach dem Intro und dem Einsetzen der unnachahmlichen, gefühlvollen Stimme von Joe Payne nur leise ein “Wow” hervorbrachte…
Dennoch einige wenige ergänzende Worte zum eigentlichen Ereignis. Rock, Folk, Operette, Musical, Klassik, Melodram werden zu einem bemerkenswerten Konglomerat zusammengefasst und ergeben in selten gehörter Perfektion einen Ohrenschmaus. Trotz seiner sympathisch, zurückhaltenden Art vermag Mastermind RJG seine junge Truppe eindrucksvoll zu führen und vor allem seine musikalischen Ideen umzusetzen. Mit über 65 Jahren gehört Robert John (hoffentlich) noch lange nicht zum alten Eisen. Fazit: The Enid wird immer die ultimative Pseudoklassik- Progressive Band bleiben und ist in dieser Besetzung ein für dieses Genre unverzichtbarer Prog-Act.
Der 3. Festivaltag wurde durch die aus Südwest-England und Süd-Wales stammende Rockband Unto Us eingeläutet. Die Mitte 2010 gegründete Band schreibt und performt ihr eigenes Songmaterial, welches mehr oder weniger dem progressiven Rock zuzuordnen ist. Die Ursprünge lassen sich nicht unbedingt von den “Großen” des Progs ableiten. So sind aber doch Anklänge des progressiven Rocks, Metal, Folk, aber auch der Klassik zu erkennen. Kopf der Band ist der Sänger Huw Lloyd-Jones, der bereits in der Vergangenheit als ehemaliges Gründungsmitglied der britischen NeoProg-Band Also Eden in Erscheinung getreten ist. Verstärkt wird die Band durch: Leopold Blue-Sky am Bass, Alex White an den Keyboards, Tom Ennis an der Gitarre und Rohan Jordan-Shah an den Drums. Am Start waren die Briten unter anderem mit ihrem Debüt Album “The Human Landscape”. Mit ihren zumeist eher unspektakulären Melodien konnte die Band dennoch besonders dann gefallen, wenn der sympathische und ansatzweise charismatische Sänger seine markante und gelegentlich an Peter Gabriel erinnernde Stimme erklingen ließ. Insgesamt ein Auftritt ohne große Höhen und Tiefen. Freunde des Genres werden sicherlich Spaß an dem Auftritt gehabt haben. Für einen der ersten Auftritte außerhalb der Insel war es ein ordentlicher Einstieg, der für die Zukunft auf mehr hoffen lässt.
Nach einer kurzen Umbaupause und dem ein oder anderen stärkenden Getränk, betrat eine weitere Luxemburger Band namens The No Name Experiment, kurz TNNE die Bühne. Im Frühjahr 2010 startete der ehemalige Keyboarder und Gründer der Neoprogger No Name, Alex Rukavina sein neues Projekt. Gemeinsam mit dem ebenfalls von No Name kommenden Sänger Patrick Kiefer sowie den Studiomusikern Gilles Wagner (Schlagzeug), Max Cinus (Gitarren) und David Juvan (Bass) bekam die Band ihr jetziges Gesicht. Mit dem Silberling “The Clock The Went Backwards” erschien dann bald ihr Erstlingswerk. Dem interessierten Neoprog Freund bot sich ein lebendiger Mix von Keyboardteppichen, melodischen Gitarrenpassagen und mal auch etwas vertrackteren Einsprengseln. Kurz das volle Programm, was eine eingängige Mischung aus Melodic Rock, ProgRock und NeoProg bieten kann. Auf Grund der sich langsam einstellenden menschlichen Bedürfnisse, in diesem Fall Hunger, konnte allerdings leider der gesamte Verlauf des Auftrittes nicht ganz verfolgt werden. Das Fazit lautet aber dennoch: TNNE beherrschen das, was sie machen, und bringen druckvoll ihre Stücke zu Gehör.
Gut gestärkt ging es weiter im Festival Programm mit der niederländischen Band Sylvium. Gegründet im Jahr 2010 durch den Gitarristen und Songschreiber Ben van Gastel trat die Band im Rind mit diesem Line-up auf: Richard de Geest (Gesang, Gitarre), Antal Nusselder (Synths, Samples), Rich Huybens (Bass, Bass Pedals), sowie Fred den Hartog (Schlagzeug, Percussion).
Nach ihrem 2012 erschienenen Erstlingswerk, der EP “Purified” starteten die Musiker durch und lieferten im Jahr 2013 mit “The Gift of Anxiety” ihren starken ersten Longplayer, um dann pünktlich zum Festival mit “Waiting for the Noise” den attraktiven Nachfolger zu liefern. In der Zwischenzeit ist die Band auch auf Grund ihrer zahlreichen Live – Auftritte zu einer festen Größe nicht nur der niederländischen Prog Szene herangereift. Mit der dargebotenen, abwechslungsreichen Mischung aus diversen Musikstilen wie ProgMetal, Progressive-, Post-, Art- und Heavy Rock in Verbindung mit Ambient-Elementen, atmosphärisch, gefühlvollen Passagen und dem unverwechselbaren Gesang gab es an diesem Abend die nächste Deutschlandpremiere. Sylvium konnte mit ihrem charakteristischen Sound von Beginn an beim interessierten Publikum punkten.
Zum Abschluss des gewohnt rührig von Oli und Tom von Progressive Promotion Records (PPR) und Flo von Das Rind organisierten Festivals kam endlich der nach 2007 bereits langersehnte zweite Deutschland Gig meiner lieben Freunde aus Mexiko (Interview in der nächsten Ausgabe von Empire Music). Die aus Mexicali stammenden Symphonic-Retro-Progger Cast gehören wohl zu den bekanntesten und erfolgreichsten Progbands Mittel- und Südamerikas.
Manch einer bezeichnet sie auch als die Flower Kings Mittelamerikas, durch Ihre Art des Spiels, ihren Stilmix und Temperament hinkt dieser Vergleich aber dann doch etwas. Ihren Alben sind irgendwo zwischen Keyboard-dominiertem klassischem Prog mit Klassikeinschlag, RetroProg und NeoProg anzusiedeln. Gegründet wurde Cast von ihrem Keyboard spielenden Mastermind Luis Alfonso Vidales am 15. April 1978. Ihre ersten Aktivitäten fußten in und um ihre Heimatstadt, die dann Jahre später in der Prog-Szene weltweit durch das legendäre Baja-Prog-Festival bekannt wurde. Hinter der Organisation dieses inzwischen schon zum 14. Mal stattgefunden Festivals steckt ebenfalls Alfonso Vidales gemeinsam mit seinem Management um Carlos Humarán. Seit Bestehen, der in wechselnder Besetzung nimmer müden Band, wurde mit dem kurz vor Festivalbeginn erschienenen 18. Album “Vida” erneut eine hervorragende ProgRock-CD veröffentlicht. Mit der im Gepäck der Band befindlichen neuen Studioscheibe und dem großen musikalischen Fundus der vergangenen Jahre gab es selbstverständlich keinen Mangel an Songmaterial für das bevorstehende Konzert.
Da der etatmäßige Bassist Dino Brassea verhindert war und nicht mit über den großen Teich eingeflogen wurde, sprang für die Vida-Tour 2015 Carlos Humarán, ehemaliges festes Mitglied und nun gute Seele für alles, als Ersatz ein. Was sich erfreulicherweise zu keinem Zeitpunkt als Schwächung erwies.
In der Besetzung Alfonso Vidales (Keyboards), Bobby Vidales (Vocals), Lupita Acuna (Gattin von Alfonso, Vocals), Antonio Bringas (Drums), Roberto Izzo (Violine), Claudio Cordero (Gitarre) und wie gesagt Carlos Humarán (Bass) erwartete die zu dieser späten Stunde übriggebliebenen Festivalbesucher ein musikalisches Feuerwerk der Superlative.
In einer kaum zu beschreibenden Spielfreude steigerten sich die Musiker von Titel zu Titel. Die wieselflinken Gitarrenläufe und die teils ekstatischen Soli von Claudio Cordero begeisterten immer wieder. Auch eine gerissene Saite konnte ihn nicht aus dem Konzept bringen … dann spielt man halt mit einer weniger – und wie!
Das bereits breite Klangspektrum von Cast erfuhr durch das gefühlvolle und virtuose Geigenspiel von Roberto Izzo eine weitere Steigerung. Auch Antonio Bringas durfte seine Qualitäten an den Drums mit einem Solo unter Beweis stellen. Trotz des leichten Gefühls, dass die Keyboards (gespielt von Alfonso) etwas stärker im Vordergrund hätten stehen dürfen, tat Familie Vidales/Acuna ein Übriges, um maßgeblich für einen unvergesslichen Abend zu sorgen.
So war es dann nicht verwunderlich, dass die Band am Ende nicht ohne die obligatorischen Zugaben vom Publikum entlassen wurde.
Wie Alfonso später sehr zutreffend beschrieb: die Energie des begeisterten Publikums übertrug sich auf die Vortragenden, die dann diese in ähnlicher Form wieder an das Publikum zurückgaben. Es bedurfte nicht eines vollen Konzertsaals um für derartige Stimmung zu sorgen, nein es reichte alleine die gemeinsame Freude am Dargebotenen, um aus dem Rind einen kleinen “Hexenkessel” zu machen.
An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei allen Musikern und bei den unentwegt wirkenden Organisatoren für dieses wunderschöne Prog-Wochenende bedanken.
Live-Fotos: Timo Riedel
Band-Links:
RPWL
SSTTGD
Light Damage
The Enid
Unto Us
TNNE
Sylvium
Cast
5 Kommentare
Liebe Riedelgang.
Wieder ein toller Bericht, der mein Empfinden ganz genau wiedergibt. Schön mit Euch immer wieder so tolle Erlebnisse zu teilen (wie z:B. auch das Spock’s Beard Konzert am Sonntag).
Für mich bleibt noch zu berichten,daß die Darbietung von CAST mit das Beste war, was ich in den letzten Jahren gesehen habe.
Schön, der Kölntruppe angehören zu können!!!!!!!!!!!
Übrigens, wieder einmal tolle Fotos vom Timo!
Ja, auch ich habe vieles in Sachen Progressive Rock in den letzten Jahrzehnten live erlebt. Aber nur ganz selten hat eine Band solch ein symphonisches Feuerwerk dargeboten wie Cast. Allein das Zusammenspiel zwischen frickeliger E-Gitarre und hingebungsvoll vorgetragenen Geigenparts suchte seinesgleichen. Wer nicht einer der leider viel zu wenigen Gäste war, mag diese Superlativen als bloße Lobhudelei abtun. Solch ein frenetischer Überschwang einer Band! Schöner Festivalbericht Horst. Leider habe ich euch als Köln-Fraktion nicht erkannt, kenne nur von früher den Jürgen M., den ich unter den Konzertbesuchern aber nicht ausfindig machen konnte. Sehr schöne Konzertbilder mit einer gelungenen Lichtstimmung!
War übrigens der im weißen Cast-Longsleeve von der “Beyond Reality”-Tour. 🙂
Hi Horst,
danke für die Blumen freut mich sehr. Beim nächsten Festival gibt es sicherlich dann das reale Treffen, das bekommen wir schon hin.