(45:04, CD, Beste! Unterhaltung/Broken Silence, 2015)
Es ist gerade mal Mitte März und doch scheint der Markt bereits gut mit hörenswerten Alben des Jahrgangs 2015 gesättigt. Im Schatten “großer” Neuveröffentlichungen erschien am 6. März das Album “Hvel” der isländischen Band Árstíðir. Vier Sänger mit Gitarren, Klavier, Geige, Cello und Percussions – das hört sich nicht weiter außergewöhnlich an. In Fachkreisen ist die Musikszene Islands jedoch hoch angesehen, ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Gesamtbevölkerung ist aktiv im Bereich der Musik tätig, und jede Band ist bestrebt sich aus der Masse der anderen abzuheben. Dies gelang Arstidir, damals noch zu sechst, medienwirksam mit dem spontanen A capella-Vortrag einer 800 Jahre alten isländischen Hymne im Anschluss an ihr Konzert im Bahnhofsgewölbe in Wuppertal-Vohwinkel. Das YouTube-Video dazu wurde innerhalb von kürzester Zeit über drei Millionen Mal aufgerufen. Das war 2013.
2014 erhoffte sich die Band dann mithilfe von Kickstarter zumindest einen Teil der “Hvel”-Produktionskosten finanzieren zu können, der für das Vorgängeralbum “Svefns Og Vöku Skil” (2011) aufgenommene Kredit war noch nicht ganz abbezahlt. Gut 68.000 US-Dollar von 1.600 Förderern kamen auf diesem Wege zusammen, dreimal mehr als ursprünglich erhofft. Anschließend ging es ins Studio, die Produktionszeit verlängerte sich durch den größeren finanziellen Spielraum allerdings enorm…
Doch wer nun eine Fortsetzung der Entwicklung von folkigen Klängen zu Chamber-Folk hin erwartet wird sicherlich von “Hvel” anfänglich enttäuscht sein. Während der Planungsphase des neuen Albums verließen Cellist Hallgrímur Jónas Jensson und Pianist Jón Elísson die Band. Aus der Not wurde eine Tugend gemacht, die verbliebenen Bandmitglieder formierten sich um, so wurde kurzerhand Gitarrist Ragnar Ólafsson zum Pianisten. Für die Studioaufnahmen der Celloparts konnte Hallgrímur als Sessionmusiker reaktiviert werden.
Bereits nach den ersten Sekunden des Eröffnungssongs ‘Himinhvel’ wird klar, dass das dritte Studioalbum der Isländer neue Pfade betritt – es enthält Bestandteile elektronischer Musik! ‘Things You Said’ erscheint im Stile der Vorgängeralben mit charakteristischem Akustik-Gitarrensound und mehrstimmigen vokalen Harmonien begleitend zum Leadgesang von Daníel Auðunsson, jedoch ergänzt durch den Einsatz eines Schlagzeuges – das hat es bei dieser Band ebenfalls noch nie gegeben. Im gewohnt folkigem Stil der Band gehalten ist ‘Someone Who Cares’, das ohne Percussions auskommt. ‘Moonlight’ besticht durch seine Schlichtheit und den Einsatz einer E-Geige. Mit dezenten Synthieklängen wird bei “Vetur Að Vori” gespielt, bevor Violinist Karl James Pestka bei “Friðþægingin” mit einem Geigensolo in allerbester E-Gitarren-Manier glänzt. Das Folgestück “Ró” – auf deutsch: “Ruhe” – steht dazu im starken Kontrast – die Musik fließt getragen von Gitarren- und Geigenklängen dahin. Es ist das erste Stück der Bandgeschichte, das vollkommen ohne Gesang auskommt. Bei “Cannon” handelt es sich um ein Liebeslied, inspiriert von einem Querschläger, den Ragnar beim Test einer Magnum in der Wüste Arizonas erlitten hatte. Ein Höhepunkt des Albums ist “Silfurskin”, es vereint schöne Melodie mit dem hervorragendem Gesang von Gunnar Már Jakobsson und der typisch isländischen Melancholie zu einem Meisterwerk. “Shine” ist kompositorisch durch Progressive-Rock-Elemente geprägt und deutlich komplexer als die anderen Stücke des Albums. “You Again” ist sehr eingängig und beim letzten Stück “Unfold” singt Violinist Karl die Leadvocals, dies ist ebenfalls ein Novum.
In der Gesamtbetrachtung ist “Hvel” ein sehr gut gelungenes, hervorragend produziertes und eingängiges Album mit tollen Melodien (u.a. ‘You Again’), teilweise besonders hochwertigen Kompositionen (z.B. ‘Shine’) und einem außergewöhnlichen Einsatz der Geige. Die stimmungsvollen Celloparts und orchestralen Einflüsse, die besonders zum Sound des Vorgängeralbums beigetragen haben, sind leider unterrepräsentiert und nach dem Ausscheiden von Jón und Hallgrímur ist die Qualität des Gesangs zwar immer noch sehr gut, doch gerade in den hohen Passagen eine Stufe weniger hervorragend. Der Einsatz des Schlagzeuges ist eine Bereicherung, in der Umsetzung allerdings manchmal etwas “fremdkörperartig” – hier gibt es noch Optimierungspotential. Die große Vielseitigkeit des Albums ist erfrischend, sie beruht sicherlich darauf, dass alle vier Musiker gleichwertige Anteile am künstlerischen Schaffensprozess hatten. Der Autorin stand das Album bereits einige Wochen vor dem Release-Termin zur Verfügung – und es ist bisher noch nicht langweilig geworden! Im direkten Vergleich mit den Vorgängeralben geht mit “Hvel” die künstlerische Weiterentwicklung weg von den Gänsehautmomenten hin zu Ohrwurmmelodien, vom Chamber-Pop zum Art-Pop. Interessant ist das Album u.a. für Anhänger von Sigur Ros, Dead Can Dance oder Simon &Garfunkel.
Bewertung: 12/15 Punkten (AD 12, AI 12, JM 12, KR 12, KS 11)
PS: Mit 45 Minuten ist “Hvel” recht kurz. Diese Spielzeit ist freilich für die Schallplattenproduktion ideal – und so wird auch in Kürze eine audiophile Pressung auf schwarzem und weißem Vinyl im Handel erhältlich sein. Mit der Veröffentlichung der drei noch fehlenden “Kickstartersongs” ist in den nächsten Monaten zu rechnen. Für 2015 sind Touren in Tschechien und Österreich (März), Deutschland und Schweiz (Mai/Juni) und den USA (Juni/Juli) geplant.
Die Termine im Betreuungsgebiet nach heutigem Kenntnisstand:
23.03. Baden (A), Cinema Paradiso, m. Kyle Woolard
24.03. Wien (A), Sargfabrik, m. Kyle Woolard
25.03. Hohenems (A), Löwensaal, m. Kyle Woolard
26.03. Salzburg (A), Oval, m. Kyle Woolard
27.03. Bleiburg (A), Altes Brauhaus
28.03. Gutenbrunn (A), Bühnenwirtshaus Juster, m. Kyle Woolard
29.05. Bordesholm, Savoy-Kino
30.05. Husum, Speicher
31.05. Hagen, Christuskirche,
Support: Kristoffer Gildenlöw
01.06. Dresden, Dreikönigskirche
02.06. Landau, Atrium der Universität
04.06. Thun (CH), Café Mokka
05.06. Marienberg, Baldauf Villa Marienberg
06.06. Marienberg, Baldauf Villa Marienberg
07.06. Nürnberg, Tafelhalle
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YouTube-Video der “Bahnhofshymne” ‘Heyr, Himna Smiður’
Konzertbericht 2013 “Wenn Árstíðir zweimal klingelt”
Wikipedia