Geliebter Mummenschanz
Die bereits 18. Ausgabe des ProgPower Europe (PPE) Festivals erwies sich als so etwas wie Karneval für Progger: exzessive Verstöße gegen das Vermummungsverbot, Wildfremde aber Gleichgesinnte verbrüdern sich zu reuefreiem, lustvollem Tun. Naja, vereinzelt mag frühmorgens mal ein kurzer Katermoment vorgekommen sein.
Freitag
Verkaterte Morgen hatten wir potenziell einen weniger, denn aus rein terminlichen Gründen hatten wir uns gegen die “Burn-in”-Veranstaltung am Donnerstag mit Dreamwalkers Inc. entschieden, waren aber pünktlich zugegen, als PPE-Mitbegründer Martijn Balsters das Festival offiziell eröffnete.
Und so hieß es alsbald “Welcome to the Masquerade!” Das israelisch-norwegische JointVenture Subterranean Masquerade brachte bis zu acht Menschen auf die Bühne und eröffnete den Reigen mit einem Querflötensolo, gefolgt vom ‘Early Morning Mantra’. Weiter im Programm: ‘Reliving The Feeling’ (auch vom ausgezeichneten “The Great Bazaar”-Album von 2013), ‘As You Are’ (ganz neu und also nicht von Nirvana), ‘Blanket Of Longing’, dem neuen ‘Nomad’, ‘Tour Diary’, ‘Specter’, ‘Home’ oder das epische ‘Hymn Of The Vagabond’ (ein vertonter Kampf zwischen Gut und Böse) und – exklusiv für das PPE – ‘Six Strings To Cover Fear’.
Friedliche Kooperation steht im Zentrum des unterirdischen Geschehens, sogar der Leadgesang wird zwischen Eliran Weizman (verzerrt, Growls) und Kjetil Nordhus (u.a. Green Carnation, Tristania) aufgeteilt, was allein schon für jede Menge spannungsreiche Kontraste und Abwechslung sorgt, wobei das nahöstliche Flair vieler Kompositionen und nicht zuletzt die Kleidung der Musiken ein Übriges tut. So stellte sich bereits die Eröffnung als einer der Höhepunkte des Festivals heraus.
Jolly schmiedeten nun die Publikumslaune, solange das von Eliran und Co. entfachte Feuer heiß war. Und das blieb es während des ganzen Sets, auch wenn beispielsweise die Widmung von ‘As Heard On Tape’ für Piotr Grudzinski für einen bewegenden, eher stillen Moment bzw. sogar eine ausgewachsene Schweigeminute sorgte. Den verstorbenen Riverside-Gitarristen ehrten Jolly u.a., weil er sie ehedem nach Europa geholt hatte. Dafür waren der Falsettgesang beim programmatischen ‘Joy’ oder die aufpeitschende Rhythmik von ‘Firewell’ umso aufbauender. Auch Jolly hatten mit ‘Ava’ unveröffentlichtes Material an Bord und wurden auch dafür von den Karneva… Proggern gebührend gefeiert.
Samstag
Mit einem leicht ausufernden Bevorratungs- und Detox-Spaziergang nach Venlo hatten wir uns des vermutlichen Vergnügens mit Atmospheres beraubt. Doch es hatte definitiv auch etwas für sich, den Festival-Tag mit 6:33 zu beginnen. Der komplett vermummte, ungemein theatralisch inszenierte Auftritt der Franzosen schien den einen oder anderen Besucher zu verschrecken, doch die meisten von uns ließen sich vom Humor, der sagenhaften Energie und dem Genre-überschreitenden, binnen Takten zwischen Gospel, Zirkusmusik, Swing und Avantgarde changierenden ProgMetal der Formation gerne überwältigen. Ein einziges Manko betraf den Sound, der bei den tiefen Frequenzen leider regelmäßig verzerrte. 6:33 – eine wunderbare Neuentdeckung (für uns): Unexpect meets French TV meets Diablo Swing Orchestra!
Nach der Mittagspause und noch bevor Distorted Harmony loslegen, wurde es zum ersten Mal brechend voll im Jugendzentrum Sjiwa, was viel über die beständig positive Entwicklung des Festivals und das Standing der jungen israelischen Formation um Sänger Misha Soukhinin aussagt. Das vom vorzüglichen “Chain Reaction”-Album dominierte Set schwelgte bei aller Härte und Komplexität vor allem in starken Melodien.
Da setzte sich der ProgDeath von In Mourning schon deutlich brutaler in Szene. “The Singer is broken” erging das Verdikt seitens eines geschätzten Mitglieds der PPE-Familie – dabei können sich die Schweden doch auf Growls aus bis zu vier strapazierten Kehlen stützen. ‘Colossus’ bildete den würdigen Abschluss eines Sets, dessen präzise Härte merkwürdig mit den kitschigen Artwork-Projektionen kontrastierte, die statt Backdrop verwendet wurden.
Chaos Divine führten das Bühnengeschehen zurück in zwar immer noch stark bewegte und anspruchsvolle, aber weniger krasse Gefilde. Von ‘No Road Home’ über ‘One Door’, dem Toto-Cover ‘Africa’ bis hin zu ‘Mara’ waren ein melodietrunkenes Fest und wurden dementsprechend abgefeiert.
Die Niederländer Textures hatten bereits 2006 schon einmal das Sjiwa “verwüstet”. Auch ihre Rückkehr zehn Jahre danach ließ es an Druck, modern tiefgelegten Sounds und unerbittlichem Mattenkreisen vor wie auf der Bühne nicht fehlen. Nur die Powerpop-Passagen von ‘New Horizons’ irritierten wieder einmal – genau wie der Umstand, dass die Band mit dem wirklich sehr international zusammen gesetzten Festivalpublikum ausschließlich auf Niederländisch zu kommunizieren versuchte.
Sonntag
Den Anheizer machten Smallman aus Bulgarien mit ihrer geheimnisvollen, reizvoll orientalisch beeinflussten Musik aufs Feinste. Das Tempo blieb zwischen doomig und Midtempo, innerhalb dessen aber ausgesprochen vertrackte, moderne Rhythmik und mysteriöse Gesänge geboten wurden.
Das Set von Sadist spaltete die ansonsten so solidarische Gemeinde ein wenig. Für manche der Top-Auftritt zumindest des Sonntags, waren die gesanglichen Möglichkeiten der Italiener für andere doch zu begrenzt. Viel Lob erhielt Gitarrist Tommy Talamanca für seine Rush-hafte Fähigkeit, beim Gitarrespielen simultan auch noch Keyboards zu bedienen.
Auch die Franzosen Klone hatten das Festival bereits einmal bespielt – 2010. Mit neuem Line-up und viel aktuellem Material eroberten sie das abermals knattervolle Sjiwa mit stets melodischem, wenn auch düsterem PostProg und faszinierender Rhythmik à la Tool oder OSI im Sturm. Das Björk Cover ‘Army Of Me’ setzte einen triumphierenden Schlusspunkt.
Apropos düster – das zu gefühlt zu 70 Prozent auf Visuals beruhende Konzept der Nordic Giants verstörte einige Festivalbesucher ebenso wie der Umstand, dass die Projektionen während ihres spektakulären Auftritts oft auch das einzige Licht im Raum lieferten – psychedelisch für Betrachter, ein Alptraum für Fotografen. Ansonsten war das einfach groß gedacht und in Szene gesetzt – das Konzert begann wie eine Filmvorführung mit Titel, Credits und so weiter. Der vielleicht druckvollste Sound des Festivals führte zu einer besonders spürbaren Steigerung, als nach gefühlt zehn Minuten erstmals Live-Keyboards und -Drumming einsetzte.
Dabei erzählen die Giganten uns oft reichlich beängstigende Geschichten von Drohnen und kontrollierenden Androiden, von lebensmüden Zwillingen, überraschenden Wendungen und letzten Atemzügen.
Eine mit Bogen traktierte E-Gitarre und Trompetenspiel füllten den Sound im Folgenden weiter auf, dem dennoch vereinzelt vorgeworfen wurde, ja “nur Soundtrack für Kurzfilme” zu sein. Für uns dennoch – wie erwartet – eines der Festival-Highlights.
Für die Schweden Wolverine, Freunde von Impressario René Janssen, war dies bereits das fünfte PPE-Erscheinen. Vermutlich war das langsame ‘Our Last Goodbye’ keine ideale Wahl für den Aufmacher, aber Stefan Zell & Co. hatten ja noch reichlich Zeit bis zu ‘This Cold Heart Of Mine’ und dem abschließenden ‘Nemesis’.
Unsere ProgPower allerdings hatte uns allmählich verlassen. Da noch eine längere Rücktour bevorstand und wir Threshold kürzlich noch gesehen hatten, ließen wir uns diesen – dem Vernehmen nach – Leckerbissen entgehen. Aber: Nach dem PPE ist ja vor dem PPE, genau wie beim Fasching. Das 19. ProgPower Europe findet vom 5. bis 8. Oktober 2017 statt. TesseracT sind bereits angekündigt.
Surftipps:
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“PPE Family” (Community @ Facebook)
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PPE ’16 – the movie (or rather Tom de Wits Vlog)
“Burg Bröckelstein” (Kasteel de Berckt)
Jugendzentrum “Sjiwa” in Baarlo
Live-Fotos: Tobias Berk
A brief, incomplete history of PPE in festival reviews
2001: Alles anders, weiter so!
2002: Mit der Lizenz zum Flöten
2003: Familientreffen des ProgMetal (von Stephan Kunze, R.I.P.)
2003: The Prog, The Power And The Glory (von Stephan Kunze, R.I.P.)