Eyes. Cannot. Behold.
Oder wie Kollege Jürth post festum so trefflich formulierte: “Mouth. Wide. Open.” Und das sogar von Anfang an, war doch das Kölner Chapter vom MC Betreutes Proggen für Saint Steven in nahezu vollständiger Mampfstärke und ausgesprochen frühzeitig angetreten. Die gemeinsame Stärkung für die folgende Wonnen unseres Trüppchens an zusammengeschobenen Tischen sah fast aus wie das Letzte Abendmahl, allerdings ohne Jehovah, der beim Soundcheck wohl unabkömmlich war. Unter anderem wegen der Qualität seines aktuellen Werkes “Hand. Cannot. Erase” (H. C. E. ), wohl aber auch aufgrund eines für Prog beispiellosen Presserummels waren fast sämtliche Termine der aktuellen Tour von Steven Wilson ausverkauft…
… so natürlich auch das zu diesem Anlass bestuhlte E-Werk, das wegen der Stuhlreihen und aufgrund der gewaltigen Leinwand am hinteren Bühnenrand wie ein riesiges Kino wirkte (“Wo ist das Popcorn?!”). Passenderweise ging es diesmal also auch mit einem “Vorfilm” los, der, allmählich konkreter werdend, zum Hauptthema des Abends hinleitete. Das visuelle Konzept (Lasse Hoile) war auch bei anderen Wilson-Veröffentlichungen schon sehr wichtig, man denke an die Animationen zu “The Raven…” oder die “Kabuki”-Ästhetik einer semitransparenten Gaze zwischen Musikern und Publikum. Aber bei H. C. E. hat das buchstäblich theatralische Ineinanderwirken von Musik, Texten und Bildern ein Gewicht erlangt, das doch recht weit über handelsübliche “Rockkonzerte” hinausgeht.
Wenn man vorher einige Zeit mit dem Album gelebt hat, dann ist das übrigens ein wenig, wie erstmals die Verfilmung eines Lieblingsbuches zu sehen: Du hoffst, nicht enttäuscht zu werden, saugst die Visualisierungen auf, vergleichst – und die Bilder, die bei Dir entstanden waren, die Gesichter, die Deine Phantasie der Personage gegeben hatte, werden gegebenenfalls durch jene von der Bühne bzw. Leinwand “überschrieben”. Bei der miesen Verfilmung eines Lieblingsbuches kann das eine schmerzhafte Erfahrung sein – beim Gesamtkunstwerk “H. C. E. live” war es ein exquisites ästhetisches Vergnügen. Denn es gibt wirklich schlimmere Anblicke als die zur Darstellung der “weiblichen Hauptrolle” ausgewählte Schauspielerin, (eine junge Kate Bush in stark tätowiert) und auch der “Er” (etwa Typ Mike Rutherford?) zur Liebesgeschichte von “Hand. Cannot. Erase.” lässt sich gut ertragen.
Wir sehen also “Sie”. Rauchend. Immer wieder rauchend. Und mit Katzen. Das Thema “Alleinsein und Einsamkeit im Gewühl großer Städte” wird behutsam eingeführt, während die nacheinander auf die Bühne kommende Band das Intro anspielt – ‘First Regret’, und schon befinden wir uns mitten in der mysteriösen, herzzerreißenden Geschichte…
Steven – wie üblich barfuß, ansonsten mit “Goldtop” Les Paul aber bestens gekleidet – ist offensichtlich aufrichtig erfreut über den ihn begrüßenden donnernden Applaus. Er weist darauf hin, dass sich die heutige Setlist wenig überraschenderweise primär beim aktuellen Album bedienen wird. ‘3 Years Older’, einer der melodischen Höhepunkte des Albums, bietet auch im Konzert ein Wechselbad zwischen Schönheit und Trauer. Das Titelstück nimmt ein wenig Tempo, aber keine Spannung aus dem Set. Die Band (leider ohne Theo Travis, der nur in London mit dabei war) spielt unglaublich tight zusammen, der Sound ist enorm druckvoll (einigen von uns zu sehr), aber kristallklar und hat bezaubernde Quadrophonie-Effekte, wenn beispielsweise plötzlich Möwen vom Halleneingang her schreien.
Ninet Tayeb, die auf dem Album die weiblichen Parts übernimmt, hätte eigentlich auch mit dabei sein sollen, wie Steven erklärt. Doch sie ist vor wenigen Wochen das erste Mal Mutter geworden – “das ist eine Erklärung, aber keine Entschuldigung” witzelt der Bandboss, der nicht gerade als Familienmensch verschrien ist. “Via Apple Technology” (was für ein Product Placement!) sei die Sängerin aber doch Teil des Abends, so dass “Routine” perfekt über die Bühne geht – übrigens auch Wilsons persönliches Lieblingsstück der Platte. Die Geschichte spitzt sich zusehends zu. “Sie” erscheint jetzt als Trickfilmfigur mit riesigen verheulten Augen im Bild.
Für eine großartige, fast gerappte Version von ‘Index’ wird nun die fortlaufende Dramaturgie des Albums unterbrochen. Dabei wird es sehr laut. Adam Holzmans Synth-Solo lässt erste Unterkiefer sacken, genau wie das “Violining”-Solo von Steven selbst.
“Home Invasion” und “Regret #9” nehmen den ursprünglichen Erzählfaden wieder auf, bis zu ‘Lazarus’ – dem Trost für trauernde Porcupine Tree-Fans. ‘Harmony Korine’ passt da im Anschluss wunderbar und wird von einem Guthrie Govan-Solo zum Niederknien gekrönt.
‘Ancestral’ bringt die heftige, jazzrockige Seite des Wilson-Schaffens zurück und bietet Marco Minnemann Gelegenheit, Faxen zu machen, während er Dinge spielt, welche die meisten Menschen für unspielbar halten. Nick Beggs aka “Königin Silvia” wechselt je nach Tiefton-Anforderungen zwischen Stick und Bass und ist wie stets ein Hingucker ersten Ranges.
‘Happy Returns’ produzierte wieder diesen Kloß im Hals, womöglich sogar feuchte Augenwinkel, die als Reaktion auf Progmusik ja nicht so ganz typisch sind. Ganz typisch hingegen, dass der reguläre Teil des Abends auch mit dem Album-Extro endet: “Ascendant Here On…”.
Der kollektiv erschriene und ertrampelte erste Zugabenblock brachte die mit einem Bass Communion-Intro eingeleitete Perle “The Watchmaker” und noch ein Nicken in Richtung Porcupine Tree-Fans, das sterbensschöne: “Sleep Together”.
Nach “The Raven That Refused To Sing” (leider kein “Drive Home”) war dann leider Schluss und wir mussten heimfahren. Immerhin aber bereichert um ein einzigartiges Konzerterlebnis.
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Setlist des Abends
Wikipedia
Eine Klaus&Klaus-Produktion
Fotos: Klaus Bornemann